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Pilar Baumeister: Zwei Gedichte

Lyrik aus NRW

Neben dem Schlafenden


Ich war sehr warm angekleidet
deshalb starb nicht an Kälte.
Ja, die logische Kette
der Ereignisse.

Wir haben einen Blitzableiter;
wir werden nicht vom Blitz geschlagen.
Die Macht des Blitzes bleibt mir
mythische Absage.

Die Glühbirnen erzeugen Licht.
Nein, falscher Schluss:
sie sind nur
Instrumente eines Erfinders.

Geigenmusik würde mich
zum Schlafen bringen.
Ich bin doppelt wach
weil der Trost
der Musik ausbleibt
und du wie ein Toter
mit mir nur schläfst.

Ich erfinde die Zusammenhänge
mehr, als dass ich sie begreife.
Weil du eine Heimat hast,
habe ich auch eine.

Mit Scheinen und Münzen
kann man sogar den Kauf
eines gemütlichen Hauses,
Kauf von Gegenständen
und Erlebnissen erfinden.

Trügerisch unklar
erscheint mir meine Adresse.
Weil Gott mein Leben erdichtet hat,
muss ich ihm gleichtun
und mitschöpferisch in seinem Stress
aufblühen oder verblühen,
mich selbst entschlüsseln und verschlüsseln.

Ich er-finde dich, mich...
Gegenwart und Erinnerung,
eine ganze Welt von Gesichtern dazu.
Wir sind viele... deshalb nie
einsam, eine logische Schlussfolgerung:
Einsamkeit ist bloß
eine Erfindung des Menschen.



Gedanken eines Blinden beim Anfassen eines Kugelschreibers


Etwas Stechendes,
was schreibt.
Sticht aber nicht,
berührt nur das Papier
und zittert,
geht lange Wege entlang,
und dann erhebt sich,
sanft und träumerisch,
in der Luft,
wo nichts mehr geschrieben wird
bis zur nächsten Berührung
mit der heiligen Fläche des Papiers,
das alles abbildet.


Stumm und bedeutungsarm für mich
und doch rätselhaft, faszinierend
wie Insektenstiche
auf meiner Haut,
wie Fliegen, die
man nicht fangen kann:
Buchstaben, die man nicht
fühlen kann mit Händen.


Nach einem entschiedenen Klick,
wie das Summen der Fliegen,
bewegt sich die Spitze
majestätisch und schreibt:
meinen Namen, Deinen Namen
und die der Freunde in der Ferne.
Ich muss glauben, dass es stimmt,
dass der beschriftete Zettel
unsere Namen spricht.


Dieser längliche Gegenstand,
aus so vielen Teilen bestehend,
so kompliziert und jedoch so klein
etwas dünner am Anfang und am Ende
und dicker in der Mitte
mit einem Halter an der Seite,
in der Mitte nicht ganz glatt,
wie zweigeteilt durch einen Streifen
und in der Größe sehr unterschiedlich,
wie die Gedanken der Schreibenden.
Für die Hand gemacht
und doch das Ergebnis nur für die Augen.


Er hat die lebenslängliche Würde
einer Fremdsprache für mich!
Bewegung, Tinte und Energie.
Das Phänomen begreife ich,
und wenn man auf den obersten Teil
dieses Gegenstandes drückt,
und wenn die Spitze das Papier erreicht,
dann, dann geschieht es,
dann fliegen die Fliegen,
und du verwandelst dich in einen Menschen,
der etwas mitteilt.


Ich liebe
das lautlose Schreiben
der Sehenden.


Pilar Baumeister, blind, 1948 in Barcelona, als Pilar Andreo Vila geboren, lebt seit 1975 in Deutschland. Sie studierte Germanistik und Anglistik mit Staatsexamen (1981) Promotion (1990) und Erweiterungsprüfung im Fach Russisch (1999). Ihre Dissertation: „Die literarische Gestalt des Blinden im 19. und 20. Jahrhundert, Klischees, Vorurteile und realistische Darstellungen des Blindenschicksals“ erschien im Peter-Lang-Verlag, Frankfurt am Main.

Langjährige Verwaltungstätigkeit seit 1984 am Computer mit Blindeneinrichtung.

Nach ihren Werken auf Spanisch: „Estados Interiores“ und „El Antro de los Extraños“ schreibt sie seit einigen Jahren in deutscher Sprache: Kurzprosa, Roman, Lyrik.