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Thomas Geduhn: Das Gewissen

Oder: Der Mensch sieht sich immer nur selbst in seiner Nähe

Amrum, 23. November 2003

„An den Stränden der nordfriesischen Insel kommt es zu hochdramatischen Szenen. Hunderte verölter Eider- und Trauerenten versuchen sich an den Strand zu retten, wo sie bereits erwartet werden: von Jägern und Wäschern.
Jäger wie Wäscher meinen es gut mit den Tieren. Beide glauben, ethisch richtig zu handeln. Die Jäger wollen die verschmierten, unterkühlten und entkräfteten Tiere ´erlösen`. Die Wäscher fangen die Vögel ein, säubern sie und päppeln sie auf. (...) Es kommt zu wüsten Auseinandersetzungen und einem Wettrennen um die Opfer der Ölkatastrophe."

Das Szenario nach Burkhard Straßmann ist wohl ein typisches Beispiel dafür, dass Menschen fahrlässig-wissend Gefahrensituationen in Kauf nehmen, um dann für den Fall, wenn das sprichwörtliche Kind in den Brunnen gefallen ist, stets die vermeintlich bessere Lösung im Ergebnis zur Behebung hausgemachter Probleme zu haben. Die Folgen unserer Selbstüberschätzung sind also keineswegs kompatibel mit der Gehhilfe bisheriger Erkenntnisse, auf die wir doch so viel halten.
„Gewiss, ein gutes Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen. Aber ein schlechtes Erinnerungsvermögen - das tut es auch.„ Dieses sarkastische Bonmot der Schriftstellerin Ilona Bodden ist ein Spiegel unseres Gewissens.

Warum bin ich – wie ich bin? Ebenso selbstbezüglich ist es, dass wir die Naturgebundenheit der menschlichen Existenz betonen. Wir sind Natur - wollen aber nicht auf ein Naturwesen reduziert werden. Der Mensch ist ´exzentrisch positional`, also zu sich selbst außerhalb stehend und damit reflektierend. Dieses Konzept der ´Dritten Person` ermöglicht eine relativierende Außenansicht unserer Selbst und unserer Mitwelt.

Alles Wissen bestehe in einer sicheren und klaren Erkenntnis. Derartige Denklinien wie diese von René Descartes sind heute mitnichten Dutzendware. Gleichwohl sind wir unverändert und geradezu süchtig nach einem moralisch befreienden Heureka. Ja, absolut, nur so ... oder Nein niemals, völlig undenkbar ...
Soziobiologen verstehen den gesamten moralischen Apparat des Menschen als artspezifische, biologische Angepasstheit und dies bringt ganz im Interesse des ´egoistischen Gens` nur ein je nach Verwandtschaft und ethnischer Zugehörigkeit abgestuftes Wohlwollen hervor.

Krudem Biologismus, demzufolge kulturelle Phänomene in bloßen Begriffskontexten der Biologie zu fassen sind, wurden zurecht immer wieder Absagen erteilt.
Dennoch, der Nährboden unseres Sozialverhaltens ist keineswegs nur Humankultur - beruht nicht nur auf generationsübergreifender Weitergabe von Informationen und deren variablen Neuverortung. Das Wesen unserer Existenz ist ebenso Ausdruck einer evolutionsbiologischen Basis.
Die gegenwärtige Hirnforschung kennt (noch) keine präzisen neuronalen Korrelate des Gewissens, das nach gängiger Überzeugung als Aspekt der Individuation über die Erziehung erworben wird. Ungeachtet der potentiell biologischen oder kulturellen Disposition ist jeder Mensch jedoch grundsätzlich fähig, veränderten Umständen einen veränderten Gewissenstatus zuwachsen zu lassen.

Das Gewissen ist nicht alleine von introjizierten sondern auch enkulturierten Wertvorstellungen abhängig. Beispielhaft lässt sich dies an der Einstellung der Inuit zu menschlichem Leben ersehen.
Traditionell war es normal, dass sie ihre alten Gesellschaftsmitglieder im arktischen Schnee und Eis aussetzten, während sie uns heute in den ´zivilisierten Ländern` als Kindermörder verachten, weil wir hier regelhaft ungeborene Kinder abtreiben. Wir hier dagegen empfinden kaum Gewissensbisse bei Abtreibungen, würden aber das Aussetzen und damit das indirekte Töten alter Menschen als Mord ansehen.
´Gut und Böse` sind von Menschen postulierte kategoriale Werte, die auch spezifische Anpassungsleistungen an ihre Umwelt darstellen und als solche kulturanthropologische Konstanten sind.

Das Konstrukt Gewissen hat, wenn schon nicht absolut, so doch aber eine zweite Heimat im Utilitarismus und ist damit translateraler Natur. Nun ist das Prinzip der Nützlichkeit weit mehr als eine Duftmarke, wenn man sich mit der Idee arrangiert, dass Gewissen das Geschwister des Interessenkonfliktes ist. Der übermächtige Trieb nach Ausübung von Macht etwa und Beherrschung jeglichen Seins, die nochmalige Destillation häufig substanzarmer, zivilisatorischer Bedürfnisse lässt homo sapiens sapiens und sein nosce te ipsum in die Abgründe unaufgebrauchten und vom Stammhirn diktierten Verhaltens blicken. Gregory Batesons vornehm-zeitloses Diktum von dem Wesen, dass, wenn es seine Umwelt zerstört, sich auch selber umbringt, vermögen auch die rascher lernenden Hirnpartien nachhaltig nicht zu realisieren.

Charles Darwin vertrat die Ansicht, dass die Evolution nach der biologischen Zuchtwahl durch die Ăśberlegenheit der Moral und des Gewissens weitergetrieben wird. Das Gewissen bestehe, so Darwin, in der Reue ĂĽber eigene Handlungen, in denen der Mensch eigenen Begierden statt seinen sozialen Trieben gefolgt sei.
Stellt man sich Gewissen als Verhaltensgebilde vor, so muss dieses Phänomen auch als eine Überlebenstechnik betrachtet werden.
Es löst eine Vielzahl unterschiedlicher Verhaltensmerkmale aus, die uns die Grundlagen sogenannter menschlicher Werte und Normen als adaptive Faktoren zur Verfügung stellen. Doch was bedeutet schon schiere Humanität, wenn wir unser Verhalten jenseits dieser Grundlagen als ´un-menschlich` verstehen?
Zwar mögen diese Grundlagen - als Teil unserer Sozialisation - zur Internalisierung von sozialen Normen und Regeln führen, wobei erwartet wird, dass ein Individuum auch dann den Regeln gemäß handelt, wenn es die Neigung verspürt, sie zu übertreten. Diese Übertretungsneigung bekommen wir aber nicht in den Griff; zumal unter Berücksichtigung des ökonomischen Verwendungsimperativs, der immer auch machtausübende Gesellschaftsteile mit sich reißt. RICHTIG und FALSCH werden moralische Ubiquitäten, die nach der ersten Entrüstung akzeptiert und nicht selten institutionalisiert werden.

Man könnte also fragen: Wie gehen wir als vermeintliche Rationalisten mit unserer Irrationalität um?

Der amerikanische Nobelpreisträger Herbert Simon zeigte ab 1950 mit seiner Theorie der "begrenzten Rationalität", dass sich Menschen aufgrund ihrer beschränkten Auffassungsgabe nur um je einen kleinen Ausschnitt der Wirklichkeit kümmern und ihr Verstand bloß ein Bedürfnis auf einmal verarbeiten kann. Menschen suchen sich einige vielversprechende Alternativen, wägen kurz ab und treffen ihre Wahl. Simons Menschenmodell zeigt, dass der Einzelne mit der Zeit höchst widersprüchliche Entscheidungen fällt. Um mit Ingeborg Bachmann zu sprechen: „Die Geschichte lehrt dauernd, aber sie findet keine Schüler.„
Wie in Goya’s gleichnamiger Radierung gebiert der Schlaf der Vernunft ´Ungeheuer`. So tun wir letztlich was wir wollen und suchen oft genug den schnellen Vorteil, weil unser kognitives Potential unsere von der steten Vorteilssuche begünstigte Subjektivität legitimiert. Alles was uns nutzt ist nützlich!

Evolutionsbiologisch sieht sich der Mensch immer nur selbst in seiner Nähe!
Nikolaus Gelpke, der Herausgeber von MARE, schreibt in der jüngsten Ausgabe seines Magazins (Nr. 44) mit dem Schwerpunktthema ´Robben` u.a. folgendes Editorial:
„Schon vor 20 Jahren benutzte ich die Robbe. Mit Diavorträgen wollten wir bei Greenpeace die Menschen für Umweltprobleme sensibilisieren – und unsere Kasse füllen. Dabei kamen uns kleine, süße Robben zu Hilfe, kurz bevor ihr Leben durch einen Schlag auf den Schädel verloren. Denn immer vor der Pause zeigten wir diese herzzerreißenden Bilder vom Robbenbabyschlachten in Kanada. Während der Pause ließen wir den Klingelbeutel herumgehen; die Erfahrung zeigte, dass der Wille zum Spenden um ein Vielfaches höher lag, wenn die Zuschauer unter dem unmittelbaren Eindruck dieser Bilder standen – viel höher als nach Beiträgen über sauren Regen, Atomtests, globaler Erwärmung oder Regenwaldabholzung. So hat selbst Greenpeace die Robben missbraucht.„
Was sich, neben der selbstzerstörerischen Tendenz unserer Spezies, in diesem Beispiel zeigt, ist die reduktionistische Selbstbespiegelung: Denn die Robbenbabys werden aufgrund des sogenannten ´Kindchenschemas` in die große Familie der Menschen aufgenommen.
Schon das berühmte Paradox des Kreter Epimenides ´Alle Kreter sind Lügner` zeigt in seiner selbstbezüglichen Aussichtslosigkeit, wie widerspruchslastig unsere Natur ist.

Als gesichert erscheint wohl die Gebundenheit von geistigen an neuronale Prozesse. Sind unserem Gewissen damit biologische Grenzen gesetzt? Welche Synergien mit anderen Teilzentren in unserem Gehirn liegen an, falls nun elektrische „Gewissensaktivitäten„ in einem Hirnareal konstatiert werden? Und was wüssten wir mit Blick auf unsere Handlungen, die ja auch immer nicht beobachtbare Unterlassungen sein können? Ließe sich z.B. die Frage beantworten, ob Gewissen – als Sozialkompetenz im Rahmen kultureller Variation - erworben wird oder ob Gewissen als das Freud’sche „Über-Ich„ bzw. als „genetisch eingebettete Norm„ bereits Bestandteil unserer evolutionsbiologischen Grundausstattung ist?
Quäle nie dein Gehirn zum Scherz, denn es fühlt wie du den Schmerz: Wäre eine gezielte und diskrete Manipulation unser aller „Teufelchen„ eine hirnchirurgische Zukunftsoption? Wer verantwortet die Folgen solcher Forschung, von denen der Hirnforscher Wolf Singer sagt, dass sie „im Lichte der Verpflichtung gegenüber der Wahrheit und der Gesellschaft„ jederzeit bedacht werden müssten.
Folgen wir den Thesen der gegenwärtigen Neurobiologie. Etwa Gerhard Roth, der vehement für eine Neubewertung des ´Freien Willens` eintritt: „Der Mensch ist nicht frei, sondern ein Vollzugsorgan dessen, was im Gehirn neuronal determiniert ist.„ Oder Wolf Singer: „Das, was wir als freie Entscheidung erfahren, ist nichts als eine nachträgliche Begründung von Zustandsveränderungen, die ohnehin erfolgt wären.„ Ihr Kollege Michael Gazzangia aus den USA formuliert es noch provokanter: »Wir sind die Letzten, die erfahren, was unser Gehirn vorhat.«
Kann man, muss man unserem Gehirn damit den Status der Autonomie einräumen?
Ist das Bewusstsein selbst nicht mehr die Ursache einer Handlung, sondern lediglich die Blaupause dessen, was das Gehirn bereits entschieden hat? Jede Straftat wäre ja dann nicht psychologisch oder gesellschaftlich zu erklären, sondern eine Art Naturkatastrophe.

Denken wir einfach mal multiplex-analytisch-systemisch, vor allen Dingen aber nachhaltig und damit konsistent vorauswissend. Aber das tun wir nicht, denn das sind nicht wir – nicht wir heute Lebenden.
Wahr ist vielmehr: „Wir sind keine Engel, die das Universum von außen sehen.„, wie Stephen Hawkings in einem Widerruf seiner allumfassenden Theorie des Universums ausrief. Alle Modelle und jede rationale Vorauswahl sind ebenso selbstbezüglich, weil sie – und wir als ihre Erfinder – selber Bestandteile des Universums sind, welches sie beschreiben sollen.

Anders als Pflanzen und Tiere ist der Mensch nicht in eine natĂĽrliche Umwelt natĂĽrlich eingepasst, sondern muss sich ohne Habitatsfixierung die ihm entsprechende Welt erst aufbauen. Diese Welt oder Ă–kumene in ihrer ursprĂĽnglichen Bedeutung ist die kulturelle Seite des Menschen.
Der Mensch als Zoon Politicon ist also von Natur aus veranlagt, sich eine Kultur zu schaffen. Anders ausgedrückt sind wir von Natur aus der Natur entrückt! Beispiel: Während unser Intellekt sich z.B. mit dem Tod beschäftigt, verdrängen ihn Instinkt und Gefühlswahrnehmungen.
Welche Merkmale besitzen wir jenseits unserer Reflexe, Instinkthandlungen und Erbkonstellationen? Definieren wir die menschliche Natur nur über ihre tugendhaften Merkmale, die folglich keine Raubtierexistenz besitzt - und zwar deshalb, weil die Alternative zu entsetzlich wäre?
Auch wenn man Bewusstsein als die Fähigkeit des Menschen verstehen kann, auf organisierte Weise auf seine Umwelt zu reagieren, so sind wir doch auf uns selbst zurückgeworfen – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Diese Aussage kann nur in ihrer holistischen Bedeutung verstanden werden.

Wir sind alleine unserem Gewissen verantwortlich? So jedenfalls heiĂźt es!
Doch was ist das Korrektiv?