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Thomas Geduhn: Lob der Langeweile

Eine virtuelle Reise ins Reich der Muße

"O Faulheit, erbarme Du Dich des unendlichen Elends!
O Muße, Mutter der Künste und der edlen Tugenden,
sei Du der Balsam für die Schmerzen der Menschheit!"
(Paul Larfargue, in "Recht auf Faulheit", 1883)


Wer faul sein will, muss schlau sein.



Das Liegen im Taghellen wurde -früher zumindest- von der Familie als laszive Verschwendung von Zeit empfunden. Dabei war die Stimmung im Zimmer herrlich gedämpft, weich, sinnlich und Sommers angenehm kühl der großen Außenwärme trotzend. Auf dem Boden hingestreckt oder auf dem gemachten Bett liegend konnte man einzelne Staubindividuen bei ihrem immer gleichen Tanz beobachten. Durch halb geschlossene Lider sich dem Flirren der Sonnenstrahlen hingeben, die durch die kleinen Webfehler obstbunter Vorhänge eindrangen und köstliche Tagträume evozierten. Das carpe diem aus einer anderen Zeit.

Heute wollen wir in die Zeit, die uns zur Verfügung steht, immer mehr hineinpacken. Langeweile wird dagegen als destruktiv empfunden, als quälende Spannung. Die Muße steht, oft auch nur als Füllmittel zwischen Arbeitsabschnitten, hierarchisch etwas höher. Faulsein, schon das Wort -ein Sakrileg an sich. Der Horror vacui: Die Furcht vor der Leere, vor der unerfüllten Erwartung. Bloß nie ohne Aufgabe sein.

O Graus - Tödliche Langeweile, Erlebnisarmut, Beziehungseinerlei. Selbst die Götter langweilten sich und schufen deshalb den Menschen. Als Adam sich langweilte, wurde Eva geschaffen usw. usw. Geht es Ihnen manchmal ebenso oder jedenfalls so ähnlich? Außenminister Joschka Fischer jedenfalls kennt diese Furcht, zu der er sich in einem Interview mit der taz mit den Worten bekannte: "Ich hasse nichts mehr als die Langeweile."


Wieviele Einwände könnte man gegen die weit verbreiteten und zutiefst als negativ empfundenen Gefühle gegenüber einem der wichtigsten Leistungsträger im menschlichen Leben erheben! Sich etwa Zeit nehmen für die Lange-Weile und keinerlei Interesse an sonstigen Dingen zu haben. Wer Langeweile so empfindet, dem kommen seine vitalen Interessen freiwillig entgegen. Kinder wissen das intuitiv. Offenbar wissen sie, dass sie so den Zugang zu mehr Lebendigkeit finden, wenn sie nicht der Tabufalle "Müßiggang ist aller Laster Anfang" auf den Leim gehen. Aber sie sind müßig, langweilen sich und kommen dann plötzlich darauf, was sie gern tun wollen. Der italienische Psychiater Paolo Crepet hat schon seit Herbst 1998 mit einem Pilotprojekt an zwei Genueser Schulen die Voraussetzungen für einen möglichen Einstellungswandel geschaffen. Weltweit einzigartig wird an diesen Schulen nämlich einmal wöchentlich für zwei Stunden das Fach , also Müßiggang unterrichtet.

In der Tat sollte der Umgang mit der Zeit neu gelernt werden und die Begrenztheit eigener aktivistischer Möglichkeiten einschließen.


Die Zeit! An dem großen und alltäglichen Geheimnis hat jeder Mensch teil, aber die wenigsten denken darüber nach. Schlimmer noch: Die meisten Menschen nehmen es einfach hin und wundern sich kein bisschen darüber. Dass die Zeit aber immer schon das Grundnährmittel auch von Langeweile, von Muße oder Faulheit war, ist nicht alleinige Erkenntnis der gelehrten Philosophie.

Das Thema Muße und Langeweile wurde unlängst von der Tourismusbranche entdeckt. Das junge Unternehmen ´Reise mit Weile` etwa hat einen Nischenplatz auf dem heiß umkämpften Reisemarkt gefunden. Obwohl ehemalige Tugendbegriffe wie Muße, Gelassenheit oder die gepflegte Langeweile wenig zeitgemäß sind, lautet das unternehmerische Konzept: weg vom Schleusentourismus.


Stattdessen wird Folgendes angeboten: Tagedieberei, Pflichtvergessenheit, Rückbesinnung auf die eigene Innenwelt, sowie als Höhepunkt, sozusagen als Kürprogramm. Das Versprechen der Geschäftsführung lautet: ´Eine Reise mit uns ist eine Reise zu sich selbst`. Also, auf zum neuen Leben. Dass bei diesen Produkten das Angebot nicht ganz billig ist, versteht sich.


Anlässlich einer Reise aus der Kategorie , die neu und hochpreisig ins Angebot aufgenommen werden soll, testet eine kleine Gruppe in einer Art ´Blindverkostung` das Beta-Produkt als eintägige Kurzreise. Das Produkt habe, so teilt die Geschäftsleitung mit, einen gewissen Erkundungscharakter und solle später unter der etwas eigenwilligen Bezeichnung ´Der Rhythmus der Erde ist langsam` in den Katalog aufgenommen werden.

Die Reisegruppe ist klein, ihre Mitglieder mentalistisch grundverschieden. Diese Verschiedenheit sowie auffällige ´Brüche` im Lebenslauf waren die wichtigsten Kriterien für die Aufnahme in die Gruppe, die ohne eine Lagebesprechung und Informationen über die Reise auskommen muss.


Das Ziel dieser eintägigen Reise ist das Nadolny-Territorium. Es wird seit Menschengedenken von dem Tiez-Volk bewohnt, dem eine besondere Beziehung zur Zeit nachgesagt wird. Wie jedes Ureinwohnervolk besteht es aus mehreren Stämmen, welche im Falle der Tiez in der etwas irritierenden Übersetzung Faulpelze, Langweiler und süße Träumer heißen. Nun ja, andere Völker, andere

Sitten. Das Zeitempfinden ist ohnehin kulturell bedingt, weshalb Menschen in anderen Kulturen das Phänomen Zeit unterschiedlich auffassen und gewichten.


Jede Kultur hat so ihre eigenen zeitlichen Fingerabdrücke. Ein Volk kennen, heißt die Zeitwerte kennen, mit denen es lebt.

Noch während der Anreise teilt die Reiseleiterin der Gruppe mit, dass sie einem der wichtigsten Persönlichkeiten des eingeborenen Tiez-Volkes begegnen wird. Der Hinweis wird mit größter Begeisterung aufgenommen. Die Erwartungen sind groß. Die Tiez sind bekannt für ihre Faulheit, gegen welche die Polynesier, dem weltfahrenden James Cook Inbegriff von höchster Ziellosigkeit, ausgesprochene Sklaven der Stechuhr waren.


Wie überall auf der Welt geben auch diese Reisenden nach der Ankunft zunächst ihr Gepäck in der Unterkunft ab. Deren Lage ist nun wahrlich außergewöhnlich. Kaum zwanzig Schritte vom Strand entfernt öffnet sich landeinwärts eine enge, von dichtem Bewuchs eingerahmte Schlucht, die nach weiteren fünfzig Schritten in einem natürlichen Oval endet. Zwei Ebenen bilden diesen Landschaftsraum ab. Der kleine Trupp erreicht die untere Ebene über eine sattgrüne Treppe, über deren Stufen dichtes Gras zu fließen scheint und erblickt dann eine bauliche Synthese aus menschlicher Architektur und natürlichen Erosionskräften, die eine weit gefasste Öffnung in den stark zerklüfteten Hang erzwungen haben. Zu sehen ist eine Architektur, deren meerseitige Vorderansicht als exquisiter maurischer Hufeisenbogen errichtet wurde.

Nach innen zu erstreckt sich ein tiefer Saal mit einem basilisken, pastellfarbenen Gewölbe. Zahlreiche Öffnungen nach oben gießen perlmutternes Licht in den Raum. Aus dem Innengemäuer werden Rinnsale aus großer Höhe über sich weitspreizende Cibotium-Farne geleitet. Vereinzelt sind Kolibris zu sehen, die vom Nektar prallroter Ingwerblüten schlemmen. Auf der duftenden Holzscheibe einer Rotzeder ist zu lesen, dass ´HAIDA`, eine erst kürzlich gegründete Nichtregierungsorganisation, die Leitung dieser besonderen Unterkunft wahrnimmt.

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