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Walter Vitt: Ein freier Text

Prosa

I. Was ist ein freier Text?

Allerheiligen 2004 (1.11.). Unter den sieben Emails, die ich an diesem Tag öffne und einsehe, befindet sich eine Anfrage nach einem „freien Text“.
Der Briefschreiber ist mir sehr gut vertraut, der Typus eines „freien Textes“ nur vage. Über irgendetwas zu schreiben, wenn der Zusammenhang, in dem das Stück Literatur dann stehen soll, absolut feststeht?

Der Email-Schreiber informiert darüber, dass er zum 75. Geburtstag seiner Mutter „eine kleine handgemachte Publikation“ zu jenen Türen plant, die der Kölner Bildhauer Günter Lossow nach dem 2. Weltkrieg für das neue Haus der Familie in Köln geschaffen habe. Ich kenne die bronzenen Türen des Hauses. Die Arbeit an der Tür zum Sachsenring hin erinnert an die Ankunft der biblischen Arche Noahs, die am Kartäuserwall zeigt den Flug einiger Kraniche.
Als ich die stilisierten Kraniche zum ersten Mal sah, dachte ich, für Köln hätten Mauersegler viel besser gepasst. Jetzt, da ich zu schreiben begonnen habe, fällt mir meine Fürsorge für die Kölner Mauersegler als Kunst-Motiv wieder ein. Sollte ich über Mauersegler einen „freien Text“ schreiben?

Der Großvater des Email-Schreibers hatte die Türen nach dem überstandenen Krieg in Auftrag gegeben. „Dies war Teil eines Versprechens der Großeltern“, heißt es in der Email. „Wenn wir und die 6 Kinder diesen schrecklichen Krieg überleben, sagten sie, werden wir in Immekeppel der Mutter Maria ein Häuschen bauen und in Köln an unserem neuen Haus für alle sichtbar an die Geschichte der Arche erinnern“.

II. Das Kriegsende im Kuh-Unterstand

Meine Familie hat mit 6 Kindern diesen Krieg ebenfalls überlebt, ich bin das zweite von diesen 6. Die beiden Jüngsten, ein märzgeborenes Zwillingspaar, waren im Frühjahr 1945 gerade eine Woche alt, als die amerikanischen Panzer aus sicherer Entfernung das kleine Dorf im Harz bei Kreiensen beschossen, in dem wir seit Ende 1943 als evakuierte Großstädter in einer ehemaligen Baubaracke lebten. Zweieinhalb Tage lang dauerte der Beschuss. Ich höre noch heute meinen Vater sagen: „Die Amerikaner gehen niemals Risiken ein, ehe sie sich mit ihren Soldaten weiter voranbewegen. Sie schonen ihre Menschen“.
Meine Erinnerungen verdrängen die Überlegung, den Mauerseglern in der geplanten Publikation ein Denkmal zu setzen. Bin ich wirklich frei, jeden nur möglichen Text anzubieten? Drängt sich nicht die Kriegsthematik auf? Anders gefragt: Habe ich wirklich die Freiheit, über etwas Anderes zu handeln, als über Deutschlands schwierigste Jahre im 20. Jahrhundert?

Ich sitze am PC und suche noch immer Orientierung. Ich schreibe zurück, seine Email habe mich angerührt und an die eigenen Kriegserlebnisse erinnert. Gerne würde ich mich an seinem Projekt beteiligen, aber er müsse mir näher eingrenzen, was er unter einem „freien Text“ verstehe. Frei vom Thema Kunst? Ob ich über meine Kriegseindrücke als Kind schreiben könne? Über meine Suche nach Vätern? Meinen Vater hätte ich schon 1960 verloren, damals sei ich 23 Jahre alt gewesen, und deshalb dächte ich manches Mal, dass meine Themen als Kunstkritiker und Literat immer auch mit meiner Suche nach Antworten auf das zu tun haben könnten, was meine Vater-Generation zugelassen habe in den Jahren des Hitler-Regimes. – Um 11.53 Uhr schicke ich die Email ab.

Die Antwort trägt die Uhrzeit 13.25, immer noch am 1.11.2004 „Ein freier Text ist ein freier Text“, heißt es da. Na - schön, denke ich, ein Mauersegler ist ein Mauersegler und ein Quadrat ist ein Quadrat. Als ich im Herbst 1972 in Viersen in der Stadthalle über Victor Bonatos Kunst sprach und einen neuen Redeabschnitt mit „Ein Quadrat ist ein Quadrat ist ein Quadrat“ begann, rief mein damals dreijähriger Sohn Christian laut in den Raum: „Das weiß doch jeder, das musst Du doch nicht extra sagen“. Alles lachte, ich war aus dem Konzept gebracht.

Wir waren unter dem Beschuss hindurch den Waldweg hinauf gekrochen, die beiden Babys im selbstgebauten Bollerwagen. Wir beiden älteren Geschwister, 9 und 8 Jahre alt, zogen gemeinsam und abwechselnd und meist auf allen Vieren kriechend den Wagen, die Eltern kümmerten sich darum, dass das ältere Zwillingspaar, 3 ½ Jahre alt, nicht zurückblieb. Aber wir mussten den Bollerwagen auf halber Höhe stehen lassen, zu beschwerlich war uns beiden das ungewohnte Transportgeschäft. Schließlich erreichten wir, die Babys auf dem Arm, nahe dem Waldsaum auf einer Weide einen Unterschlupf, den sonst nur die Kühe aufsuchten, wenn Dauerregen sie störte.

Aus der Höhe beobachteten wir das Geschehen, voller Bangen um unsere feuerempfindliche Baracke. Ein einziger Treffer hätte das Holzhaus in Flammen aufgehen lassen. Ich dachte vor allem an meine Briefmarkensammlung, die für immer verloren gewesen wäre, und an die Kasperlefiguren, von denen einige mir ein polnischer (?) Fremdarbeiter geschnitzt hatte. Die Fremdarbeiter beobachteten wir Kinder oft bei der Arbeit und standen mit ihnen auf Du und Du. Als die Amerikaner am Morgen des zweiten Tages ihren Beschuss vorübergehend eingestellt hatten, band Vater eine Windel an einen kurzen Baum-Ast und versuchte, ständig seine weiße Fahne schwenkend, unseren Bollerwagen zu erreichen, in dem wir auch Verpflegung zurückgelassen hatten. Vater gab sein Vorhaben auf, als nun von deutscher Seite auf ihn geschlossen wurde.

Wir überstanden diese Tage zerzaust, verdreckt, übernächtigt, hungrig, auch die Baracke blieb uns erhalten. Jetzt, da ich das alles niederschreibe, sehe ich sie – zögernd noch – als die „Arche Vitt“, die den Krieg umschifft hat wie die Arche der Familie meines Text-Bestellers. Millionen von Archen sind damals gesunken, nicht nur auf See, auch in den Städten und an der Front.
Doch waren das wirklich zweieinhalb Tage, die wir am Waldsaum im Unterstellplatz für die Kühe auf das Ende der Schießerei gewartet haben? Sollen wir da oben wirklich zwei Nächte verbracht haben? Ich habe es immer so erzählt, wenn ich auf das Kriegsende bei uns im Harzdorf zu sprechen gekommen bin. Aber ich kenne mich als Erzähler, ich traue mir nicht mehr so recht, seit ich mich selber oft beobachten konnte, wie ich durch Ausschmückungen, Verzerrungen, Vergröberungen – was immer sinnvoll erschien für die Wirkung einer Erzählung – auf eine besondere Pointe zielte.

III. Hitler-Bild gegen Schokolade getauscht

Wenn ich heute an meine Erlebnisse zum Ausgang des Krieges zurückdenke, fällt mir andererseits auf, dass ich die Dramatik der Lage als Kind gar nicht recht begriffen habe. Jetzt – sie aus der Erinnerung niederschreibend – schätze ich sie viel heikler ein, wobei mir heikel fast noch ein verharmlosendes Adjektiv zu sein scheint... Sehr viel mehr Sorgen bereiteten mir damals die Geländespiele mit den kräftigen Dorfjungen des Jungvolks und der Hitler-Jugend, denn ich bin regelmäßig nach Strich und Faden verprügelt worden: 1. weil ich schwächlich und in körperlichen Auseinandersetzungen ungeübt war, 2. weil ich ein Städter war, 3. weil ich in der Schule besser war und 4. weil ich katholisch war (in einer protestantischen Umgebung. Zum katholischen Religionsunterricht mussten wir einige km in ein anderes Dorf pilgern, um am Dorfeingang ebenfalls erst einmal verdroschen zu werden).

Die Baracke. Viele Stunden fuhren die US-Panzer an unserem Wohnplatz vorbei und dann durchs Dorf, wendeten auf einem Feld, das sie völlig durchfurchten, kamen von der anderen Seite wieder ins Dorf zurück und benutzen die Felder hinter unserer Baracke, um auch dort zu wenden. Sie demonstrierten ihre Anwesenheit, ihre Macht, ihr unangefochtenes Beherrschen dieses Dorfes und seiner Menschen. Was konnte ich dagegen setzen? Ich suchte unser Hitler-Bild und fand es lange nicht. Es hing nicht mehr am gewohnten Platz. Als ich es schließlich entdeckte – in der Küche als Topfuntersetzer, das Gesicht des Führers verdeckt, nach unten gewendet – lief ich mit dem Portrait auf die Straße und hielt es den Panzern entgegen. Mutter schrie auf: „Lass das Bild fallen! Lass es fallen!“ Sie befürchtete wohl nicht zu unrecht, dass ein Amerikaner auf den Hitler-Kopf schießen würde und somit auch auf den unklugen Jungen-Kopf, der dahinter steckte. Aber es kam alles ganz anders. Der Panzer, der mir am nächsten fuhr, stoppte, hielt die gesamte Kolonne auf, ein farbiger Soldat stieg herunter, bat mich um das Hitler-Bildnis, tauschte es mit mir gegen Schokolade, zwei Tafeln?, drei Tafeln?, vier Tafeln? ich weiß es nicht mehr. Tauschgeschäfte waren uns Kindern in dieser Zeit längst vertraut. Dennoch stand mir in dieser brenzligen, von der Mutter beschrieenen Situation mit dem Hitler-Bildnis in den Händen nicht der Sinn danach, die Zahl der Schokoladentafeln hoch zu handeln, die jüngeren Zwillinge tranken ja erst noch, konnten mich nicht um Schokolade angehen, so reichte mir das, was ich bekam. Der Soldat nahm das Bildnis, streichelte mir noch kurz den Schopf und kletterte wieder auf seinen Panzer. Der Konvoi setzte sich in Bewegung. Leider haben wir nur ein Hitler-Bild, dachte ich.

Am 2.11.2004, 10.52 Uhr, frage ich meinen Auftraggeber über Email: „Und wann soll der Text bei Ihnen sein?“ Ich schreibe ihm nicht, dass ich schon damit begonnen habe. Es ist zwar noch nicht viel entstanden – aber immerhin habe ich begonnen.

Um 13.30 Uhr die Antwort: „Wann Sie können und mögen“. Ich drucke die Zeilen aus, schreibe von Hand „Januar 2005“ auf das Blatt und lege es gefaltet auf meinen Terminstapel. Außen auf dem Papier wiederhole ich: Jan. 05. Um 17.23 Uhr meldet sich mein Gegenüber wieder und schiebt nach: „Schön wäre es, wenn die kleine selbstgemachte Publikation zu Weihnachten verschenkt werden könnte...“

Ich gehe an meinen Terminstapel, streiche auf dem Mail-Ausdruck des Besteller-Briefes „Jan.05“ durch, schreibe „Anfang Dezember 05“ darauf und markiere den Tischkalender entsprechend. Gut, dass ich schon einiges im Computer habe, gespeichert unter dem Stichwort: „Freier Text“.

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