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Walter Vitt: Ein freier Text

Prosa

IV. Stockschläge für ein Sonntagserlebnis

In der Nacht kann ich lange nicht einschlafen, ich bin schon wieder dabei, weitere Textteile im Kopf zu formen. Zwischen Wachen und Schlafen bündeln sich meine Kriegserlebnisse aus der Kindheit. Das brennende Braunschweig mit seinen vielen Hundert alten Fachwerkhäusern. Der Verlust der Wohnung in Erfurt durch einen Bombenangriff schon 1942. Die erste Evakuierung 1943 bei den Großeltern im westfälischen Alt-Schermbeck in der Nähe von Wesel am Niederrhein, die zweite im West-Harz. Die Lehrerin von Alt-Schermbeck tritt mir deutlich vor die Augen; sofort gesellen sich die Lehrer von Braunschweig und vom Harz hinzu. Mit dem Braunschweiger Lehrer besuchten wir Erstklässler in einem Lazarett schwer verwundete Soldaten und beschenkten sie mit Selbstgebasteltem. Ich sehe das Krankenhauszimmer noch immer vor mir, einer der Soldaten hatte einen Kopfverband, der nur wenig von seinem Gesicht offen ließ. Ob dieser Braunschweiger Lehrer, der uns zu den Soldaten führte, Nazi war oder nicht, ich weiß es nicht, ich war zu jung, um damals zu solchen Einordnungen zu gelangen.

Später, der Lehrer im Harz, der war durch und durch Nazi, unterrichtete manchmal in SA-Uniform, meistens hatte er aber wenigstens seine hohen Stiefel an, darin sein Rohrstock, der selten zur Ruhe kam. An mehreren Wochenanfängen hintereinander stellte er seine Standardfrage: „Mein schönstes Sonntagserlebnis – Walter, Du“. Ich schilderte den Kirchgang zur Kapelle oben am Wald, die Wanderung zwischen den Frühlingsfeldern hindurch und dann die Gesänge beim Gottesdienst. Der Rohrstock tanzte auf meinem Rücken. Gott finde man nicht in der Kirche, das sei Unsinn. Das wolle er nicht mehr hören. Nochmals ein Schlag auf den Rücken. Am folgenden Montag dasselbe Spiel. „Mein schönstes Sonntagserlebnis – Walter, Du“. Ich war schon immer störrisch, fühlte mich herausgefordert, schilderte auch diesmal den Gang zur Waldkapelle und die Beteiligung an der Messfeier. Wieder macht mein Rücken Bekanntschaft mit seinem Stock, wieder die Belehrung. Am Montag danach gab er auf, nachdem ich mich unverändert verstockt gezeigt hatte.

V. Das Stichwort „Auschwitz“

7.11.2004, nachts gegen 1.30 Uhr. Der Fernseher ist ausgeschaltet, die Tagebucheintragungen sind gemacht. Noch immer sitze ich im Esszimmer, höre Bach, nehme ein Blatt und notiere Stichworte für den weiteren Fortgang des „freien Textes“. Am Ende stehen 20 Stichworte auf dem Papier, einige sind im Grunde schon „abgearbeitet“, andere überschneiden sich inhaltlich, wieder andere lasse ich im Kopf, sage mir, wenn sie wichtig sein sollten, zeigen sie sich wieder, drängen sich vor, sobald ich wieder schreibe. Ich lasse es darauf ankommen. Das Stichwort „Auschwitz“ schreibe ich hin, streiche es durch, mache es durch Pünktchen darunter wieder gültig, streiche die Pünktchen durch, schreibe schließlich neu: Auschwitz.

Arbeiter hatten Vater 1944 (oder war es 1943?) zu Hause - nicht in der Firma, zu Hause - besucht: Ob er wisse, was in Auschwitz geschehe, sie hätten dort einen Bauauftrag auszuführen, ließen sich nach ihren Urlaubstagen aber nicht dorthin zurückschicken. Es sei alles ganz unmenschlich. Ob der Baufirma bei Übernahme des Projekts klar gewesen sei, was dort ablaufe? Wir Kinder werden aus der Wohnung geschickt, haben aber schon so viel mitbekommen, dass dies Wenige für uns ältere Kinder prägend wurde. Bei allen Nachkriegsdebatten über das Schicksal jüdischer Mitbürger in Deutschland und Europa geriet mir dieser Besuch der Arbeiter beim Vater immer wieder neu ins Gedächtnis, auch die Erinnerung daran, wie wir Kinder hastig aus dem Barackenraum hinausgeschoben wurden. Dieses Hinausschieben, wenn man etwas nicht erfahren soll, hat mich lebenslänglich begleitet, in der Familie, im Betrieb, bei Vertragsverhandlungen. Irgendwer schiebt einen immer hinaus – buchstäblich oder auf andere Weise.

Später entdeckten wir Kinder in Kreiensen auf dem großen Bahnhof einen dort abgestellten Güterzug mit Menschen. Menschen im Güterzug, nicht in Personenwaggons. Vielleicht waren es auch Waggons für Viehtransporte. Bewaffnete Soldaten bewachten den Zug. Wir fuhren gern nach Kreiensen, konnten den Ort von unserem Dorf aus mit einer Kleinbahn erreichen oder gingen die 6 km zu Fuß. Fahrräder besaßen wir nicht. Wir standen dann auf der hohen Fußgängerbrücke, die über das Schienengewirr und die Bahnsteige führte, und beobachteten die ein- und ausfahrenden Züge. Irgendwo stand an einer Wand die Parole: „Räder müssen rollen für den Sieg, unnötige Reisen verlängern den Krieg“. Woanders lasen wir neben der Abbildung eines Schattenmannes: „Pst. Feind hört mit“.

Die Menschen im Güterzug, im Viehtransporter – waren es solche Gefangenen, von denen die Arbeiter aus Auschwitz berichtet hatten? Oder Kriegsgefangene? Oder Fremdarbeiter? Der Begriff „Zwangsarbeiter“ war uns damals nicht geläufig. Wir beschlossen, den Menschen im Zug mit unseren Butterbroten zu helfen, reichten sie ihnen durch die Vergitterung hindurch. Die Wachsoldaten hatten sich abgewendet, als wir uns dem Zug näherten, taten so, als seien wir gar nicht da. Einer half uns, die vergitterten Fenster zu erreichen.

VI. Der Gruß „Drei Liter“

16. 11. 2004. Ich hatte mir den Vormittag freigehalten, um im „freien Text“ voran zu kommen. Da ruft Alexandra an, ob ich mich um Severin (fast 7) kümmern könne. Sein Schulunterricht falle aus. Ich sage zu. Ich bin gerne mit dem Enkel zusammen. Wir schauen uns die Edward Hopper-Ausstellung im Museum Ludwig an (er ist etwas überfordert, beobachtet schließlich nur noch das Menschengewirr vor den Bildern) und besuchen anschließend das Römisch-Germanische Museum. Darin hatte Severin während der Herbstferien eine „Römer-Woche“ mitgemacht.

Seit der Junge einiges von den Dokumentar-Features über die Nazijahre und den gescheiterten 20. Juli 1944 im Fernsehen mitbekommen hat, ist er äußerst wissbegierig, aus dieser Zeit mehr zu erfahren. Als er im Museum Ludwig zum dritten Mal etwas fragt, das sich mit Hitler verbindet, flüstere ich: „Sag’ doch bitte immer ‚Peter’ statt ‚Hitler’, die Leute fangen schon an, sich für uns zu interessieren“.

„Na gut“, sagt Severin, „mach’ ich. Hat meine Mama, als sie Kind war, Dich auch immer nach Peter fragen müssen, wenn sie was von Hitler wissen wollte?“
„Ja“, antworte ich, „so hatten wir das vereinbart. Wir waren im Urlaub an der holländischen Nordsee, als Deine Mama und ihre beiden Geschwister begannen, nach dieser Zeit zu fragen. Und die Holländer um uns herum mussten ja nicht unbedingt mitbekommen, worüber wir uns unterhalten“.
„Wieso das?“ fragt der Junge. „Die Holländer haben im Krieg unter uns Deutschen besonders gelitten. Sie können das nicht vergessen“. Severin grübelt.

„Mein Großvater Christian in Schermbeck...“ beginne ich.... Severin unterbricht: „Ist das mein Urgroßvater?“ „Nein, noch davor“, sage ich, „Dein Ur-Ur-Großvater“. Severin: „Und was hat der gemacht bei den Nazis?“ Ich: „Er hatte nichts mit den Nazis zu tun. Er war gegen Peter. Er nahm nicht einmal seinen Namen in den Mund. Wenn er auf die Behörde musste, grüßte er nicht mit ‚Heil Hitler’, sondern er sagte statt dessen ‚Drei Liter’.“

Wir gingen jetzt auf das Römisch-Germanische Museum zu. Severin: „Er sagte was?“ „Er grüßte mit ‚Drei Liter’.“ „Aber das musste doch auffallen, wenn er nicht ‚Heil Peter’ sagte, sondern ‚Drei Liter’.“ Ich - etwas genervt: „Es sollte ja auch nicht wie ‚Heil Peter’ klingen, sondern wie ‚Heil Hitler’, ohne dass er ‚Heil Hitler’ sagen musste.“

Severin bezweifelt ganz vorsichtig, dass ‚Drei Liter’ wie ‚Heil Hitler’ klingt. Ich: „Das habe ich zum Großvater auch gesagt. Aber er war sicher, dass die Sache funktioniert hat. Manchmal hätten die Nazi-Beamten ihn gefragt: ‚Was haben Sie da eben gesagt?’ Und dann habe er wiederholt: ‚Drei Liter’. Und damit hätten sie sich zufrieden gegeben, als habe er ‚Heil Hitler’ gesagt.“
Ich weiß nicht recht, ob Severin kapiert. Er sieht mich fragend an. „Severin“, sage ich, „ich war ja nicht dabei. Vielleicht ist das auch nur eine schöne Geschichte, die Opa Christian mir erzählt hat. Vielleicht war es nicht so, aber er hätte gern gewollt, dass es so war. Er wollte mir klarmachen, dass er kein Freund von Peter war“.

Wir betreten das Römisch-Germanische Museum. „Jetzt lass’ uns aber von den alten Römern sprechen“, sage ich. Severin ist einverstanden. Wir suchen die Zeichnung, die er vorige Woche beim Römer-Kursus hier angefertigt hat, aber im Werkraum sind nur Zeichnungen anderer Kinder an die Wand geheftet.
Soll ich ihm über meine Lehrer erzählen, die mich unterrichtet haben, als ich so alt war wie er jetzt? Über die Lehrerin in Alt-Schermbeck, die nicht auf den Rücken schlug, sondern auf die Hände? Man hielt ihr beide Handflächen hin, und sie hieb mit dem Stock darauf. Das war die milde Strafe. Die weniger milde Bestrafung: Man musste die Hände umdrehen, und sie schlug auf die Handrücken. Oder über den Nazi-Lehrer im Harz, der meine Erzählung vom Kirchgang nicht mochte? Über den anderen Nazi-Lehrer im Harz, der sich das Leben nahm, als die Amerikaner mit ihren Panzern ins Dorf einfuhren? Severin besucht die erste Klasse, macht frühe Erfahrungen mit Lehrern. Diesen Prozess will ich nicht stören. Ich habe ihm nichts von meinen frühen Lehrern erzählt.

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