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Matthias Schamp: Das Medienbaby prosperiert (Version 2.0)

Vorgestellt von Kerstin Dümpelmann

[...]

Sechsuhrfünf. Frühsport. Alle mitmachen! Mit den Füßen voran segelt eine Horde Wrestling-Kämpfer dem Medienbaby in die Magengrube. Zoiiing. Zoiiing. Zoiiing… Das hilft die Verdauung fördern. Das Medienbaby macht ein Bäuerchen. Dann einen Bauern. Und dann einen kompletten Agrarbetrieb samt Maul- & Klauenseuche, Futtermittelskandal, EU-Subventionen und Pipapo. Apropos Po: Zu guter Letzt wird das Medienbaby aufs Töpfchen gesetzt.


[...]


Siebenuhr. Morgenmagazin, heute unter dem Motto: Gold im Mund. Durch die Mundhöhle des Medienbabys torkeln ein paar abgehalfterte Altstars und versuchen, Nuggets im Speichelfluß zu waschen. Eine delikate Angelegenheit. Überall wurden Essensreste angeschwemmt, und zwischen den Milchzähnen haben sich ganze Tierkadaver verfangen. Der Speichelfluß war früher mal ein nettes, sauberes Gewässer. Aber seit am Oberlauf die großen Kauwerke in Betrieb gegangen sind, ist es landschaftlich schlimm.


[...]


Sechszehnuhrfünf. Aus den Mastbetrieben rollen die Transporter mit den neuen Mastern an. Es gibt Show-Master und Quiz-Master. Und es gibt die wegen ihrer besonderen Schmierigkeit berühmten Talg-Master. Plötzlich springt so ein speckiges Masterschwein nach vorn, packt den Unterlippenwulst des Medienbabys und macht: „Brblblbrblbrbl...“. Anschließend hat sich der Pegelstand in den großen Talgseen auf geheimnisvolle Weise wieder erhöht.

Sechzehnuhrfünfzehn. Mittels eines genialen Tricks wird die Wirklichkeit der Wirklichkeit enorm gesteigert: Die Realität wird einfach durch eine Reality-Show ersetzt! Die Ontologen beißen sich vor Ärger in den Arsch, aber alle anderen sind happy. Und am meisten freut sich das Medienbaby, dem das Dasein in seiner neuen Form als Räppelchen in die Wiege gelegt wird.


[...]


Achtzehnuhrneunundvierzig. Einzug der Couchpotatoes zum diesjährigen Sesselpuper-Wettbewerb. Die Kandidaten werden in Breiform dem Medienbaby verabreicht. Während sie von bezaubernden Assistentinnen mit Verdauungssäften übergossen werden, verfolgt das Publikum über Großbildschirme aus echter Magenschleimhaut gebannt das Geschehen. Jede Couchpotatoe erhält nach dem Ausgeschiedenwerden eine Vase voller Psychosen.


Achtzehnuhrfünfundfünfzig. Schiffbrüchige, die im aufgepeitschten Zytoplasmameer des Medienbabys an die Gestade eines Zellkerns gespült wurden, berichten, daß das Eiland von einem Eingeborenenstamm bewohnt wird, der sich selbst als ,Die Gene’ bezeichnet. Die Gene tragen winzige Baströckchen, haben Knochen ins Haar gebunden und wimmern, während sie rituell Meiosefeuer umtanzen: „Wir sind klein und wir werden manipuliert.“

Neunzehnuhrsiebenunddreißig. Die neuste Meldung, die über Live-Schaltungen hereinzuckt, sorgt für Aufgeregtheit bei der Stammhirnbesatzung der Sendezentrale: Es ist Krieg! Sogenannte embedded reporters robben bis unmittelbar an die Wundränder heran, von wo aus sich sensationelle Einblicke in die Eingeweide des Medienbabys eröffnen. Man kann sogar erkennen, was das Medienbaby als letztes gegessen hat. Die Wiedergabe ist derart brillant, daß selbst Schmeißfliegen sich davon täuschen lassen. In den Wohnzimmern pappen Trauben fetter Brummer an den Bildschirmen, deren Maßeinheit aus Hurra-Patriotismus von Zoll auf Blutzoll umgestellt wurde.


[...]


Dreiundzwanziguhrdrei. Die Besatzung einer Taucherglocke, die in die tiefsten Tiefen des Medienbabys vorgedrungen ist, weiß Erstaunliches zu berichten. In der absoluten Dunkelheit, die dort herrscht, leben Wesen, die mit winzigen TV-Geräten, die ihnen wie Laternen aus der Stirn wachsen, auf Beutefang gehen. Andere Organismen, die von den bewegten Bildern angelockt werden, schwimmen gradewegs in die aufgerissenen Rachen. Fressen und Gefressenwerden. So herrschen die Gesetze der Natur noch in den tiefsten Tiefen des Medienbabys.


[...]

Matthias Schamp


(Der Text wurde für das Internet gekürzt)
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Die Aufmerksamkeitsspanne des „homo medialis“ schrumpft. Geistig abschaltend, dämmert das zunächst aufmerksam Zugehörte zum Hintergrundrauschen. Radiomacher halten Hörbeiträge kurz, max. zwei Minuten. Auch TV-Magazine sparen zunehmend an Umfang, und BILD und EXPRESS sind auflagenstärker denn je zuvor. Kürze und Schlagzeile sollen das Publikum halten. Matthias Schamp kommt seinem Leser in ähnlicher Manier entgegen. Er holt den Leser dort ab, wo er zu stehen scheint, und präsentiert einen merkwürdigen Text: Die Story ist hinfällig, der Plot überholt, der Erzähler tot. Stattdessen portioniert er seine Satire aufmerksamkeitsgerecht. Alles ist schön übersichtlich und kundenorientiert. Scheinbar.

Es geht also um Medien - ein ehrgeiziges Ziel. Weil aber das Schlagwort Medien so undurchsichtig wie auch unkonkret ist, konzentriert sich Schamp auf Big Brother Fernsehen, der in der Version 2.0 dem Säuglingsalter entwachsen ist und nun im fortgeschrittenen Stadium die Zuschauer terrorisiert. Das TV-Baby scheint gerade in seiner Probierphase zu sein und entdeckt den Egozentrismus.

Man sucht in den einzelnen Episoden vergeblich nach Empathie und Rücksichtnahme, überhaupt nach einer Moral. Das Baby ist unschuldig, könnte man sagen. Es muss noch erzogen werden, sollte man meinen. Wer aber sind die Eltern? Gibt es sie überhaupt? Schamps Medien-Kaspar-Hauser handelt vor allem instinktiv und exkrementfreudianisch (fast möchte man behaupten: autonom). Doch auch wenn das Medienbaby laut Titel prosperiert – es ist weniger ein Wonneproppen, als vielmehr einen stinkender Organismus und Brutstätte für Krankheitserreger.


„Das Medienbaby prosperiert“ ist durchtränkt von verdichteten Metaphern, in der die Realität programmatisch zur Reality-Show wird. Schamp lässt dazu den Text sich selbst performen – und dehnt damit die Metapherfessel. Crossmedial zappt sich der Text voran. Wessen Chronologie wird hier dargeboten? Der Tag im Leben eines Zappers? Ein Zufallszapping ohne Akteur? Eine kommentierte Collage aus TV-Zeitschriftschnipseln? Durch die verknappen Sätze und den polemischen Schreibstil herrscht innerhalb der Zappstopps Aufruhr. Die Textszenen pendeln zwischen komisch und tragisch. Kennt man doch alles.

Verdammt, kennt man doch alles!


Mit spitzer Feder auf gesellschaftliche Missstände zu zeigen, ist das Metier der Satire, das Schamp hier parademäßig bedient. Dazu weidet er seine Megametapher Baby minutiös und anatomisch aus. Der Vergleich zwischen zwei Systemen, dem Fernsehen und dem Organismus Mensch, hinkt zwar auch manchmal, aber das ist kein Hindernis. Im Gegenteil: Durch eine anfängliche Vergleichsharmonie, gefolgt von zunehmenden Bildbrüchen, bekommt das Medienbaby eine Eigendynamik, die folgenschwer ist. Babys kennt man. Sie sind süß, können aber auch grausam sein. Auch das Fernsehen kennt man. Man liebt die Talkshows, oder man hasst sie. Man ist der Tatort- oder der Pro7-Spielfilm-Typ, guckt die Tagesschau oder die RTL-News. Allerdings macht der Text keinen Unterschied zwischen den Medienmachern. Alles ist Medien, und somit ist alles gleich stinkend, gleich verlogen und gleich infektiös. „Das Medienbaby prosperiert“ geht aber, ganz im Sinne der 2.0-Debatte, den entscheidenden Schritt weiter: Er hebt die Trennung zwischen Medien und Zuschauern auf. Alles ist medial. Wir sind Medien.