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Nicolas Born: Zuhausegedicht

Kommentiert von Gerd Herholz (nebst einem Postskriptum Hermann Peter Piwitt)
Auch Hermann Peter Piwitt war sich nicht sicher, ob zu jener Zeit vielleicht Borns Frau schwanger gewesen war. Nehmen wir also diese Zeile wie alle anderen - trotz des Abklopfens des Bornschen Lebenslaufes – nicht für allzu bare Münze, sondern als das, was sie ist: als eine ästhetische Konstruktion. Und dann fällt auf, dass sich hier fast so etwas wie eine religiöse Hoffnung versteckt. „wir erwarten das Kind“: Das spielt sprachlich unüberhörbar mit der Erwartung der Ankunft Christi. Auch Christus war ein Kind der Hoffnung, der „Erlöser“ halt, und nicht viel weniger wird vom Gedicht-Kind der Zeile 13 erwartet, wie wir später in den Zeilen 15/16 erfahren.

Zuvor allerdings werden wir mit Zeile 14 konfrontiert, die schön und irritierend zugleich sagt: „ es soll ihm einmal nicht so gut gehen wie uns“. Diese Zeile verspottet die Floskel vom „Es soll dir/euch einmal besser gehen als uns“. Und Piwitt erinnerte sich, dass er und Born gern frotzelten: Wir wollen es einmal besser haben als unsere Kinder! Zudem, Borns Kritik der Konsum- als Wahngesellschaft ist bekannt. Wir dürfen also voraussetzen, dass in Borns Gedicht Bewusstheit darüber besteht, dass es „uns“ 1970 – zumindest vordergründig und in bestimmter Hinsicht - gut geht. Zu gut. Die BRD hatte 1970 das Wirtschaftswunder geschafft, Menschen reagieren zunehmend saturierter, die Nazivergangenheit wird weiter und wieder unter der Decke gehalten. Jetzt dürfte es – so das Ziel vieler - mit noch mehr Konsum immer bewusst-, geist- und geschichtsloser bergauf gehen. Wenn man all dies betrachtet, erscheint der Wunsch, „es soll ihm (dem Kind, G.H.) einmal nicht so gut gehen wie uns“, fast freundlich, denn die Erfüllung dieses Wunsches hieße, dass das Kind nicht ersticken müsste an Verdrängung, Selbstzufriedenheit und Aufstiegsstreben. Dem Kind wird ein anderes ‚Gutgehen’ gewünscht, nicht so eines wie es die Menschen im Gedicht und um sie herum leben, mitleben müssen oder vorgelebt bekommen.

Dass das Kind gewünscht ist, ja, dass mit ihm auch große Hoffnungen des lyrischen Ichs und seines Gastes verbunden sind, beweisen die Zeilen: „aber vielleicht bringt es uns dem Glück / einen Schritt näher“. Trotz aller Wirs und Wir-Gefühle im Gedicht taucht doch hier zum ersten Mal so etwas wie die Hoffnung auf den Einzelnen auf. Und vielleicht auch die Hoffnung, dass das Kind als der junge oder der ‚neue’ Mensch, sich selbst und die Menschen im Gedicht dem Glück einen Schritt näher bringen könnte. Mit der Zeile 16 „einen Schritt näher“ ist der zweite Abschnitt des Gedichts beendet, beendet mit der Formulierung einer kleinen Hoffnung auf schrittweise Veränderung, statt auf große Revolution.


So könnte das Gedicht jetzt sogar schließen, wenn es ein unfertiges, eher programmatisches Gedicht eines mittelmäßigen Autors wäre. Das lyrische Ich hier aber geht nach seiner Artikulation der Hoffnung auf Glück überraschend selbst noch einmal einen Schritt zurück und entfaltet damit seine Hoffnungen umso nachdrücklicher. Der Autor lässt sein lyrisches Ich im dritten Abschnitt des Gedichtes ab Zeile 17 zurückblicken auf „gestern nacht“. Der Glückshoffnung aus den Zeilen zuvor wird das Zuviel-übers-Glück-reden und das Unglücklichsein von „gestern nacht“ (überhaupt der Vergangenheit?) entgegengestellt. Die Gegenüberstellung umgreift auch die Tatsache, dass gestern Nacht war, heute aber ein schöner Morgen und die Sonne wieder ganz da. (Denken Sie bitte auch daran, dass die Morgendämmerung und der Sonnenaufgang bekannte bildnerische Motive sind, um Hoffnung auf bessere Zeiten darzustellen.)

Inhaltlich rückt jetzt das Thema „Glück“ ganz in den Mittelpunkt, von Zeile 15 bis 18 taucht es gleich mehrfach auf: Zeile 15/16 „dem Glück einen Schritt näher“, Z. 17 „waren wir unglücklich“, Z. 18: „zuviel vom Glück gesprochen“. Dass man nicht so viel vom Glück sprechen soll, scheint das lyrische Ich zu ahnen und weiß sicher auch, dass Glück so nur vertrieben wird. Immerhin, „Glück“ ist nicht nur ein thematisches Zentrum des Gedichts, es strukturiert hier auch den Wechsel von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in den Reflexionen des lyrischen Ichs.

Das Ich macht über das Thema „Glück“ gekonnte Zeit-Sprünge und grenzt so eine bessere mögliche Zukunft gegen eine ‚unglückliche’ Vergangenheit und die launenhaft-wetterwendische Gegenwart ab.

Achten Sie einmal auf diese Bewegungen in und durch die Zeit. Das ist spannend, auch wenn es Sie für einen Moment anstrengt.

Zuerst werden wir direkt und unmittelbar in die Gegenwart des Gedichtes gezogen („12. November 1970 am Morgen“), dann schauen wir auf die jüngste Vergangenheit („seit Wochen“), dann wieder auf den „Morgen“, um kurz darauf mit aller Intensität brennender Wünsche nach Veränderung im „jetzt“ der Zeile 7 anzukommen. Dann Rückschau auf abgebrochene Gespräche, doch mit dem Ausschauhalten nach Flugkörpern wechselt das lyrische Ich die Blickrichtung auf die nahe Zukunft :„wir erwarten das Kind noch diese Woche“. Für die fernere Zukunft wünscht es ihm prompt, „es soll ihm einmal nicht so gut gehen wie uns“. Von da geht es wieder zurück in die jüngste Vergangenheit „gestern nacht“, dann wieder in eine Zukunft in weiter Ferne mit den „langsamen Fahrzeugen der Zukunft“. Um dann wiederum zwischen Gegenwart und Zukunft zu switchen. Da gibt es die unmittelbare Gegenwart „dieser Morgen“, dann die programmatische Zukunft mit der Absichtserklärung „einmal wollen wir für uns selber da sein / und für andere“, da gibt’s die programmatische Gegenwart als „Einsatz, den wir heute wagen“ und dann doch endlich wieder eine konkrete, menschliche Gegenwart mit dem „Piwitt fragt mich“ und der ausgreifenden Aufbruchstimmung der Zeilen 26/27: „bricht auf zu einer Wanderung“.

Was im Gedicht so leicht und fast unmerklich vorgeführt wird, mag Sie in meiner Aufzählung nun tatsächlich gelangweilt haben. Aber es zeigt doch auch etwas. In der Zeitbewegung des Gedichts manifestiert sich eine Suchbewegung des lyrischen Ichs. Es schwankt zwar nicht, ist nicht wankelmütig, aber mit und zwischen den Zeilen pendelt es in seiner Wahrnehmung und Reflexion auch zwischen den Zeiten. Eine Art Selbstvergewisserung wird da vorgeführt, die – vom Leser mehr oder weniger bewusst mit vollzogen - die Hoffnungen des Gedichtes erst verständlich und glaubhaft erscheinen lässt.


Und auch wir müssen noch einmal einen Schritt zurück, um jetzt vielleicht die Zeilen 17–19 besser verstehen zu können. Ein Interpretationsansatz wäre es zu sagen: Die beiden im Gedicht waren unglücklich, weil sie „zuviel vom Glück gesprochen“ hatten. Das wissen wir schon. Ihre Verlegenheit bestand aber auch darin, dass sie nächtens zwar viel von Glück sprachen, aber möglicherweise keines empfinden konnten. Die „langsamen Fahrzeuge der Zukunft“ sind eben noch zu weit weg, als dass sie heute schon jemanden trösten könnten. Selbst dann, wenn man sie als ein etwas kryptisches Gegenbild für menschenwürdigeres beglückenderes Leben, für menschenwürdige Fort-Bewegung betrachtete, gerichtet gegen den Beschleunigungswahn, eintretend für Entdeckung und Lob der Langsamkeit statt für Raserei, Hektik und den Heck-Tick, das Geld immer mehr Geld hecken sollte.

In Zeile 20 verankert sich das lyrische Ich gegen die Gespinste der Nachtgespräche wieder im konkreten Morgen des 12. Novembers („sicher ist deshalb dieser Morgen so schön“) mit seiner frühlingshaften Milde mitten im November, mit den Briefen und der Karte, mit der Sonne, mit den Flugkörpern im Raum, mit dem Kind, das erwartet wird (irgendwo). Denn hier und jetzt ist das Glück keine abstrakte Hoffnung mehr, sondern sinnlich wahrnehmbare Stimmung, Umgebung, Sehnsucht.


Dass aus diesem Moment der Beschwingtheit dann ein Moment des programmatischen Schwunges wird, ist eigentlich ein bisschen schade, aber kein wirklicher Schaden und erst recht kein Zufall, der das Gedicht zerstören könnte. Denn, wo so viel Bewegung ist – beim lyrischen Ich mit seinen Zeit- und Reflexionssprüngen, bei der Post, der Sonne, dem Kind, den Flugkörpern -, da beginnen sich nun auch die Menschen im Gedicht zu bewegen. Das lyrische Ich kommt in Bewegung, indem es einen Vorsatz fasst, die Figur „Piwitt“, indem sie sich ganz real in Bewegung setzt.

Die Zeilen 21 bis 24 könnten so als ein vierter Abschnitt gelesen werden.
Aus dem sinnlich wahrnehmbaren Glückserlebnis des konkreten Morgens wird das programmatische Selbstversprechen, der Schwur: „einmal wollen wir für uns selber da sein“. Nach all den Sozialismus-Diskussionen, den Gruppenzwängen, den Mühen politischer Arbeit formuliert hier ein Ich endlich ein Bekenntnis zum Selbst, man könnte fast sagen zu einer ‚neuen Subjektivität’ (die uns heute natürlich nur allzu bekannt vorkommt). Dass dieses Bekenntnis fragil ist, kann man auch daran ablesen, dass es so stark autosuggestiv vorgetragen wird als eine Art Selbstbeschwörung.

Komisch und tragisch zugleich ist auch, dass das lyrische Ich dieses Bekenntnis zum individuellen Selbst immer noch in der Wir-Form vorbringt: „einmal wollen wir für uns selber da sein“. Paradox, aber wohl erst einmal nicht anders zu haben. Irgendwie fehlt in den Zeilen 21/22 noch der Mut, offen darauf zu bestehen: „einmal will ich für mich selber da sein“. Vielleicht, weil es 1970 nicht politically correct war, öffentlich auf Eigen-Sinn zu bestehen, darauf, sich selbst und seine Bedürfnisse, Wünsche, Träume ernst zu nehmen?

Vieles spricht dafür. Unter anderem sicher die Zeile 22: „und für andere“. Auch hier ist der Zeit(un-)geist eindringlich spürbar. Obwohl vorher deutlich gesagt wurde „einmal wollen wir für uns selber da sein“, also ein großes Wir konstruiert wurde, das eigentlich gar niemanden ausschließt, wird sicherheitshalber nachgeschoben: „und für andere“.

Die sozialistischen Vorstellungen von Solidarität, von einer Gruppe als politisch handelndem Subjekt (Proletariat oder Intellektuelle als Avantgarde) lassen anscheinend einen privaten „egoistischen“ Glücksanspruch auch im Gedicht zunächst gar nicht zu. Mit dem Glück des Einzelnen, der Gruppe, muss obligatorisch auch das Glück „für andere“ gefordert werden. So steht dem individuellen Glücksverlangen, der kleinen Sehnsucht nach ein bisschen privatem Glück immer noch so etwas wie ein politisch schlechtes Gewissen zur Seite, das dem eigenen Glücksanspruch vielleicht als politischer Sektiererei misstraut.

„das ist der Einsatz den wir heute wagen“: auch Zeile 22 spricht doch eher programmatisch von den vorher geäußerten Wünschen als „Einsatz“, den es zu wagen gilt. Das Vokabular des politischen Kampfes durchzieht und deformiert auch hier die zarten kleinen Glückshoffnungen, die das Ich als Ich noch kaum zu formulieren wagt.

Die Hoffnung und das Glück des „für uns selber da sein / und für andere“ hätten eine andere Sprache verdient als die der rhetorischen Hülsen des politischen Kampfes. Ein Dilemma des Gedichts und der Zeit um 1970, dass diese Sprache noch nicht existent zu sein scheint, dass sie im Gedicht bis zu diesem Punkt nur aufscheint, gesucht wird, aber nicht gefunden.

Nur gut, dass die Zeilen 24 bis 27 etwas von dem widerlegen, was ich gerade geschrieben habe. Denn mit Piwitts Frage, „ob er hier vorkommt“ (besser: ob er hier vorkomme), verschafft sich doch noch ein einzelner Mensch aktiv fordernd Einlass ins stark vom Kollektiv, vom Wir geprägte Gedicht. Und es ist natürlich der Autor Born, der es genau darauf angelegt hat, der eben das so will. Vielleicht gerade gegen die vielen Wirs (ob konkret oder programmatisch) fragt hier ein Einzelner und stellt seine überaus wichtige Frage nicht nur im Gedicht, sondern auch ans Gedicht. Eigentlich die Frage, die alle Menschen als Leser an Gedichte und auch ihr Leben stellen: Komme ich hier vor?
Das lyrische Ich lügt den Piwitt dann ziemlich dreist an und Autor Born lässt uns dabei zuhören: „ja sage ich aber nur als Name“. Das stimmt natürlich überhaupt nicht. Wir als Leser wissen das und der Autor weiß, dass wir das wissen. Schließlich haben wir Piwitt sogar im Bad kennen gelernt, wissen etwas über ihn in Beziehung zum lyrischen Ich, wissen etwas über ihre Gespräche und ihre Vorsicht miteinander, wir kennen einige ihrer Hoffnungen, wir fühlen etwas von ihrem Unglücklichsein.

Piwitt kommt also im Gedicht nicht nur als Name vor, er wird als Mensch mindestens ebenso nuanciert sichtbar wie das lyrische Ich selbst.

Vielleicht ahnt der neugierige Piwitt das oder ist’s einfach nur „zufrieden“, dass er zumindest als Name und damit als einzeln sichtbar gewordener Mensch vorkommt, auch das kann zufrieden stimmen.

„er ist zufrieden und bricht auf / zu einer Wanderung“. Im Schlussbild schafft es der Autor - mit den Augen des lyrischen Ichs sehend - dann eben doch, gegen all die Wirs Hoffnungsschimmer aufscheinen zu lassen, so etwas wie das unscharfe Bild einer souveränen Subjektivität, eines einzelnen Menschen als Souverän seines Geschicks. Das Bild vom Aufbruch und der Wanderung zeigt uns einen Einzelnen am Beginn eines selbstgewählten Weges. Gegen all jene Widerstände, die das Gedicht als Reflex auf die Wirklichkeit auch gezeigt hat. Immerhin, so könnte das Gehen gehen. Könnte dieses Gehen aber auch ein Zuhause sein? Oder dürfen wir schon froh sein, dass Borns „Zuhausegedicht“ uns für einen Moment da Zaungäste sein lässt, wo die zwei Freunde für einen menschenfreundlichen Morgen lang selbst gerne zu Gast waren?

Würden Sie mir einen Gefallen tun? Könnten Sie das Gedicht Nicolas Borns jetzt noch einmal lesen? Auch dafür vielen Dank.

 

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