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Norbert Hummelt: die nacht

Kommentiert von Enno Stahl

die nacht

knips noch die lampe aus, wenn du vom klo kommst
laß uns schlafen, denn auch die neonleuchte drüben
nimmt ihr licht zurück: ihr eher ungesunder grüner
schimmer bleibt abgeschaltet für den rest der nacht.
ab jetzt ist nur mehr blässe hier im zimmer, queck-
silberträume, körpertemperatur geht in den keller, mit
meiner achselhöhle, glaub ich, stimmt was nicht. wir
ahnen bloß, was unter uns passiert, so ganz geräuschlos
fleisch der phantasie; nur manchmal, tags, erkennst
du wäscheständer, ist eins der fenster auf, solang
gelüftet wird. unter dem türritz steigt jetzt ein geruch
ich dachte eben noch an terpentin, das kennst du
auch, das ist ein kindheitswort. denn in der nacht, da
ich nicht schlafen konnte (ich hatte angst vor den ganz
weißen augen der endzeitsekte im science fiction-film)
lag ich alleine da u. lauschte, lauschte, der schlüssel
drehte, drehte sich noch nicht im türschloß um, nur
schob ein wagen, der vorbeifuhr, seinen stummen schein
im spalt des vorhangs durch, daß er die wand lang
huschte u. an der zimmerdecke noch ein muster gab.
u. aus dem treppenhaus geruch von terpentin. wir
wissen wenig u. bemerken nichts; nur wie die amsel
manchmal unter dem container, kann sein nach irgend-
welchen resten sucht, kommt mir bekannt vor, wenn
ich hunger hab. du hast dich umgedreht; jetzt bin ich
wieder wach u. seh den traum in deinem auge flackern.


(aus: Zeichen im Schnee, Luchterhand 2001)




Hummelts Gedicht spricht (scheinbar) vom Alltäglichen: man geht ins Bett, die üblichen Verrichtungen im Bad, nicht vergessen, das Licht auszumachen, doch die Nacht - wenn sie nicht einfach nur friedlich durchschlafen wird - ist eine terra incognita. Nachtmahre, Traumgestalten, unbehauste Gelände.

Nicht dass man es zu benennen wüsste, aber das Alltägliche, das eben noch Vertraute wird fremd: “ab jetzt ist nur mehr blässe hier im zimmer, quecksilberträume”. Die Dinge erhalten einen fahlen Glanz, Gefahren lauern, darf man sich wirklich dem Schlaf einfach so übereignen, wer wacht?

“mit meiner achselhöhle, glaub ich, stimmt was nicht” - was nicht stimmt, mag vor allem in einem selber liegen, doch wer weiß das schon sicher: “wir ahnen bloß, was unter uns passiert”. Das können, aber müssen nicht unbedingt reale Monster Lovecraft’scher Prägung sein, es gibt genügend ganz materielle, ganz greifbare Gefahren, riecht es hier nicht irgendwie nach Terpentin?

In der Nacht werden wir klein, erleben wir die Nächte der Kindheit nach, in denen die aufregenden Filme wahr werden und jede Geistergestalt uns besuchen kann, dreht sich da nicht der Schlüssel im Schloss?

Das Gedicht verschaltet in geradezu serieller Weise ungeschminkte Alltagsdoku à la Brinkmann mit doppelbödigen Spuk- und Horrormotiven nach Art der schwarzen Romantik, wie sie in unserer ach so aufgeklärten Welt im Grunde gar nicht mehr vorkommen dürften. Doch so sehr die bundesrepublikanische Gegenwartswirklichkeit auch entdämonisiert sein mag, der Bereich der “Otherworld” schlägt zurück - sei es wegen des beständigen Bilderauswurfs Hollywoods oder wegen der Abgründe der menschlichen Seele selbst.

Hummelts Gedicht thematisiert mit seiner antagonistischen Struktur geradezu paradigmatisch die “Nacht der Welt” im Sinne Hegels: “Reines Selbst, - in phantasmagorischen Vorstellungen ist es rings um Nacht, hier schießt dann ein blutiger Kopf, dort eine andere weisse Gestalt plözlich hervor, und verschwindet ebenso. Diese Nacht erblickt man, wenn man dem Menschen ins Auge blickt - in eine Nacht hinein, die furchtbar wird, - es hängt die Nacht der Welt hier einem entgegen.” (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Jenaer Systementwürfe III. Naturphilosophie und Philosophie des Geistes. Vorlesungsmanuskript zur Realphilosophie (1805/1806), Hamburg 1976, S. 187)

Wer rettet uns vor uns selbst? Was gibt uns Sicherheit? Müssen wir doch erkennen, dass wir wenig wissen und nichts bemerken? Letztlich ist es der Bereich der bekannten Materie, in den wir zurückirren: wenn wir die parallelen, elementaren Bedürfnisse der Kreaturen erfassen, uns sehen wie die Amsel, auf der Suche nach Nahrung, nach Brot. Hier nämlich wird der menschliche Körper stärker als die Vorstellungskraft des Geistes, sein Er-Fassen und Be-Greifen und Ver-Stehen. Aus seinem somnambulen Rede-Rhythmus erwacht der Text somit, verscheucht den Spuk, den Traum, der sich gleichwohl bereits beim nächsten, dem Partner neben uns, weiter entfaltet.


Norbert Hummelt, geb. 1962 in Neuss, lebte lange im Rheinland und seit 2006 in Berlin. Gedichtbände: "knackige codes" (Galrev 1993), "singtrieb" (mit CD, Engeler 1997), "Zeichen im Schnee" (Luchterhand 2001), "Stille Quellen" (Luchterhand 2004). Als Herausgeber: "William Butler Yeats - Die Gedichte" (Luchterhand 2005), "Jahrbuch der Lyrik 2006" (mit C. Buchwald, S. Fischer 2005), Lyrikedition 2000 (seit 2005). Essays, Features, Übersetzungen. Erhielt u.a. den Rolf-Dieter-Brinkmann-Preis 1996 und den Mondseer Lyrikpreis 1998. Aufenthalte u.a. in New York, Dublin, Amsterdam. Lehrte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig.