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Philipp Schiemann: Impressionen auf dem Heimweg, Düsseldorf-Gerresheim, Torfbruchstraße

Vorgestellt von Kerstin Dümpelmann

Ich weiß nicht, wie lange ich es noch aushalten kann hier, ob es wohl gesund ist, das auszuhalten. Diese Grünflächen mit angrenzenden Ausläufern von Stadtwäldchen, diese spirrigen Gewächse, als hätte ein riesiger Kamm sechs, sieben, achtmal grob zwei Drittel des Bestandes weggerissen, ausgedünnt; zwischen den grünlichen, aber doch eigentlich eher blassen Grasflecken kleine Löcher auf der Wiese, als hätte ein Absatz eines spitzen Schuhs dort herumgebohrt. Daneben ein Aufwurf, könnte Unrat von freilaufenden Hunden sein oder schlicht feucht-graumelierte Erde, auf der kein Gras mehr wachsen mag, ich weiß es nicht. Die Farbe, Gestalt und Haltung der paar Bäumchen hier, eher Gewächse mit Stamm als Bäume, das klingt zu stattlich, ängstlich sehen sie aus. Alles, was sich hier findet: ein Spiegelbild des totalen Desinteresses, ein Zeugnis einsamster Trostlosigkeit. Gehe ich daran vorbei, an diesen düsteren Grünflächen mit blattlosen Dornenbüschen, grauem Gras und fahlen, bizarren Pflänzlein, drängt sich mir jedes Mal, unaufhaltsam und ausnahmslos, die Vision eines Leichenfunds auf, mahnt mich mein Herz, auf einen schrecklichen Anblick vorbereitet zu sein. Der Ausschnitt eines Unterschenkels zwischen einem alten Autoreifen und einem wild entsorgten Fernsehsessel; ein Kinderarm, der schlohweiß und leblos aus dem rostbraunen, zu Mudd deformierten Laub ragt; heute, denke ich, heute bin ich noch mal drum herum gekommen.

© Philipp Schiemann, 2004



Was Philipp Schiemann hier geschaffen hat, ist ein bildstarkes Jammertal. Wohlgemeinte Grünflächen entpuppen sich als dahingeplant in einem Vorort-Klima, nehmen wir selbst Düsseldorf-Gerresheim, das irgendwie bekannt ist. Ein Stadtteil-Park mit dichtem Gebüsch als Fixertreffpunkt, das das Bild von schlohweißen, punktierten Kinderarmbeugen hervorruft? Bekannt. Zwischen dürren Bäumen ein dorniger Brombeerstrauch, dessen pralle Beeren wegen des Abgasgiftes höchstens nostalgischen Wert hat. Und immer wieder Gras, Gras, Gras, das alles andere als satt und saftig ist. Es ist die Atmosphäre einer gezüchteten Wildnis, die vieles außer Glückseligkeit verspricht - eine verschwindende Natur.

Und was doch noch bleiben mag, ist eigentlich auch schon weg: Mudd, Hundekot, das Loch vom „Absatz eines spitzen Schuhs“. Sogar der Fußgänger schlägt einen Bogen um eine Wiese, die ausschaut wie ein durchgescheuerter Ärmel. Man ist noch mal „drum herum gekommen“. Ja, worum eigentlich? Worum bitte geht es hier? Besser nicht fragen, nur weitergehen.

Neben der botanischen Trostlosigkeit, herrscht eine höchst makabre Form von Sperrmüll-Fatalismus. In diesem Text wird eine Menge nicht-gebraucht: ein alter Autoreifen, ein Fernsehsessel, ein Unterschenkel, ein Kinderarm. Und am wenigsten ein Wille.

Könnte man es sich so einfach machen: Die Vorstadt ist tot und liegt unter ihrem eigenen Skelett begraben? Dass zwischen Spirre und Mudde eine suburbane Nostalgie zur „düsteren Grünfläche“ verkrustet? Beinahe spürt man die paralysierende Angst, mit der knorrige Äste nach dem Gemüt langen. Warum will wer was aushalten in Düsseldorf-Gerresheim, Torfbruchstrasse? Und immer wieder Schulterzucken: „ich weiß nicht“, „ich weiß es nicht“.

Was sich hinter der schildernden Erzähltechnik verbirgt, ist nicht neu. Da ist ein resigniertes Ich, dessen Stimmung in Umgebungsbeschreibungen gespiegelt ist. Fatal ist, dass dieses Ich das weiß, und interessant die Art, in der der Text mit diesem Wissen umgeht. Zugegebenermaßen lässt sich ein sozialkritisches Panorama aufspüren, was aber deswegen so gut funktioniert, weil der Titel eine konkrete Fährte legt.

Ich denke, hier geht es um etwas anderes. Die These ist provokant. Wo man weiß, dass alles gerade tot wird, der hat am Aushalten selbst Schuld? Das dünne Aufflackern von Hoffnung, das sich im ersten Satz vermummt, und Stück um Stück um Stück demontiert wird, lässt es vermuten. Ob es wohl auf Dauer gesund sein wird, das auszuhalten? Das Finale verweist auf die Eröffnung: „Heute, denke ich, heute bin ich noch mal drum herum gekommen.“ Um das Nicht-mehr-aushalten-wollen? Wäre da nicht die Reflexion, das „Spiegelbild des totalen Desinteresses, ein Zeugnis einsamster Trostlosigkeit“, könnte man den Text trotz der penetranten Morbidität sogar leicht nehmen. Vielleicht wäre es die Impression einer frühmorgendlichen Herbstmelancholie? Stattdessen die pathologische Zuspitzung genau dort, wo der Aushaltende zum Täter seines eigenen Desinteresses wird. Ob also das Aushalten gesund ist?

Kerstin Dümpelmann