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Aus der Zwangsjacke in die Traumfabrik.

Der Gelsenkirchener Autor Rainer Horbelt und sein Nachlass im Westfälischen Literaturarchiv

Mit seinen literarischen Produktionen der 60er und 70er Jahre zielt Rainer Horbelt vor allem auf gesellschaftliche Wirksamkeit. In einer Selbsteinschätzung von 1974 heißt es: „Literatur mißversteht ihre Rolle, wenn sie sich nur subjektiv äußert und sich nur an den eingestimmten Leser wendet. Literatur hat nicht länger das Privileg einer Elite zu sein. Als Produkt eines sowohl bewußten wie auch unbewußten künstlerischen Vorganges kann sie ein allgemeines Bewußtsein oder Unterbewußtsein treffen und so zu einer öffentlichen Angelegenheit werden.“  Dabei ist Horbelt durchaus innovativ, was z.B. sein Theaterstück „Die Spielmaschine“ belegt, das 1976 in Köln und Gelsenkirchen aufgeführt wird. Wenn er in dieser Produktion Mechanismen eines Wettbewerbspiels à la Monopoly auf das Theater überträgt, betritt der Autor insofern Neuland, als er dabei ein Spontantheater mit Siegern und Besiegten entstehen läßt, das an jedem Abend einen anderen Verlauf nimmt. So mag man ihn zu einem der Vorläufer des heutigen Impro-Theaters zählen.

Für sein ganzes Schaffen gilt: Rainer Horbelt will mitwirken an einer besseren Welt, will auf gesellschaftliche und soziale Fehlentwicklungen hinweisen, ehrliche Zustandsanalysen liefern und Modelle für alternative Lebensformen anbieten. Schon sein Erstlings-Roman „Die Zwangsjacke“  legt davon Zeugnis ab, der aufgrund der zu seiner Zeit neuartigen Collagen- und Mischtechnik so außergewöhnlich ist, daß er mit dem Förderpreis des Landes NRW 1974 ausgezeichnet wird. Unübersehbar ist, daß hier ein Filmschaffender schreibt, denn es werden Formen des Features und des Drehbuchs wirkungsvoll in den Text integriert. Aus Protokollen, Äußerungen, Urteilen und Beschlüssen fügt Horbelt ein beklemmendes Bild zusammen, das als Spiegel der sozialen bundesrepublikanischen Wirklichkeit mit ihrer Kälte und Unmenschlichkeit zu lesen ist. Es entsteht die erschreckende Dokumentation des Lebens des Hans Lenes, der als Kind, obwohl gesund, in eine Anstalt für geistig Behinderte gesperrt wird und für den die Gesellschaft fortan kein anderes Leben mehr vorsieht als das eines Anstaltsinsassen und Debilen. Auch heute ist dieser verstörende Dokumentar-Roman mit seinen drastisch-entlarvenden Versatzstücken noch sehr lesenswert.

Da es zum Selbstverständnis des Westfälischen Literaturarchivs zählt, Bestände nicht im Archiv verstauben zu lassen, sondern durch Veranstaltungen und Projekte ‚lebendig’ zu erhalten, sind seit der Übernahme des Nachlasses zwei größere Publikationsvorhaben initiiert und gefördert worden. Ein Projekt betrifft die Verfilmung der „Judenbuche“ Annette von Drostes, die Horbelt 1980 für den Bayerischen Rundfunk realisiert hat. Die Novelle von Weltruf ist nur in diesem Fall Gegenstand einer Filmadaption gewesen, und das Resultat ist nun mit Hilfe der im Nachlaß befindlichen Drehbücher und weiterer Quellen einer gründlichen Analyse unterzogen worden.  Im Ergebnis muß allerdings festgehalten werden, dass die Horbeltsche Filmfassung der vielschichtigen, komplexen Struktur der Novelle und ihren ‚kreativen Leerstellen’ nicht gerecht wird.

Unter den Materialien in Horbelts Nachlaß befindet sich neben Manuskripten, Entwürfen und Fragmenten auch Arbeiten, die zu Lebzeiten des Autors nicht oder nicht mehr veröffentlicht werden konnten. 2003 gelang es, das letzte wichtige Werk Horbelts aus dem Nachlaß zu veröffentlichen. In der Veröffentlichungsreihe der Literaturkommission für Westfalen erschien der Band „Die Kinder von Buchenwald. Texte und Zeichnungen von Überlebenden“.  Diese Dokumentation, die Horbelt offensichtlich schon 1999 zur Veröffentlichung in der Europäischen Verlagsanstalt vorsah, fand Hugo Ernst Käufer weitgehend druckfertig im Nachlaß vor. Der Band verdient besondere Beachtung einmal aufgrund der bemerkenswert eigenen Form der Horbeltschen Darstellung der schicksalhaften Leidenswege jüdischer Kinder während der NS-Diktatur in Deutschland, zum anderen aufgrund der außergewöhnlichen, eindrücklichen Dokumente, die er versammelt. Es ist Rainer Horbelt zu danken, dass er die Erinnerungen, Geschichten, Briefe und Zeichnungen Betroffener erhalten und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat. Es sind diese Worte und Bilder der kindlichen Opfer, durch die das Unbeschreibliche Ausdruck findet. Horbelt hat die Zeugnisse sorgfältig zusammen gestellt und durch gründlich recherchierte Passagen und Kommentare ergänzt und vervollständigt. Mit der postumen Veröffentlichung dieses Bandes ist ein weiterer Beitrag gegen das Vergessen erschienen, der auch an das engagierte Schaffen des Autors Rainer Horbelt erinnert.

Jochen Grywatsch

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