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Bernd Kortländer: Clara Viebig

Wir Deutschen sind ein bekannt heimatsüchtiges Volk, vielleicht weil Heimat uns so gründlich abhanden gekommen ist. Heimatliteratur hatte bei uns stets Konjunktur, und es genügt ein Blick in die Fernsehprogramme um festzustellen, daß diese deutsche Sehnsucht weiterhin ungestillt ist: Heimatdramen, Heimatkomödien, Heimatklänge wohin das Auge reicht. Die Debatten um den Begriff, etwa im Zusammenhang mit den Filmen von Edgar Reitz, haben an dieser Liebe wenig geändert. Wie wenig, daß zeigte sich nicht zuletzt im Beschluß zur Rekonstruktion des Berliner Stadtschlosses. Auch dies Ausdruck jener Sehnsucht nach einer Heimat, von der wir doch längst wissen, daß es sie nicht gibt, nie gegeben hat, deren Kulissen wir uns aber so gern aufbauen lassen, weil dann alles so schön ordentlich aussieht.

In diesen Tagen ist an eine Autorin zu erinnern, die in ihrer Zeit zu den herausragenden Vertretern der Heimatliteratur gezählt wurde. Als „stärkste untere den schreibenden Frauen unserer Tage“, „Meisterin der Milieukunst“, „deutsche Zolaide“ hat die Kritik sie in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg gepriesen. Ihr mehr als dreißig Bände umfassendes Gesamtwerk erlebte teilweise hohe Auflagen, wurde in viele europäischen Sprachen übersetzt. Heute kennen die am 31. Juli 1952 gestorbene Schriftstellerin Clara Viebig allenfalls noch Anwohner von Clara-Viebig-Straßen, Germanist/Innen und Kurgäste von Bad Bertrich in der Eifel, wo sie als touristisches Aushängeschild dient und eine rührige Literatur-Gesellschaft sich um ihr Andenken kümmert.

Geboren wurde sie am 17. Juli 1860 in Trier, wo der Vater preußischer Oberregierungsrat war. Mit acht Jahren übersiedelte Clara mit der Familie nach Düsseldorf, besuchte hier die Schule und erhielt die musische Ausbildung höherer Töchter. Häufige Besuche führten sie nach Trier und von dort in die Eifel, die zu ihrer bevorzugten Landschaft wurde. Nach dem frühen Tod des Vaters zogen Mutter und Tochter 1883 nach Berlin. Erste literarische Versuche Viebigs erschienen 1894. 1896 heiratete sie den Verleger Friedrich Cohen, der auch ihr literarischer Mentor wurde. Der wirkliche Durchbruch gelang ihr 1899 mit dem Roman „Das Weiberdorf“. Bereits in den 20er Jahren zog sie sich langsam zurück, und nach 1933 machten nicht nur ihre Ehe mit einem Juden, sondern auch ihr Schreibansatz sie in Nazi-Deutschland zur Außenseiterin. Zwar wurden ihre Bücher nicht verboten, manche sogar, wenngleich verstümmelt, neu aufgelegt. Doch hielt die Stadt Düsseldorf es immerhin für angebracht, die erst 1930 nach ihr benannte Straße bereits sieben Jahre später in „Ludwig-Gleim-Straße“ umzubennenen. Wirklich in Gefahr war ihre Familie. Ihr Sohn, ein Musiker, emigrierte frühzeitig nach Brasilien, ihren Mann bewahrte der Tod 1936 vor der Deportation. Sie lebte weitgehend unbehelligt, aber auch unbeachtet in ihrem Zehlendorfer Haus, später in Schlesien. Gestorben ist sie mit 92 Jahren in Berlin, ihr Grab befindet sich auf dem Düsseldorfer Nordfriedhof.

Wer als Leser aus dem Westen Deutschlands die in der preußischen Rheinprovinz angesiedelten Texte zur Hand nimmt - weitere Schauplätze Viebigs sind Berlin und das deutsch-polnische Grenzgebiet - der begegnet vertrauten Namen und Ereignissen. Koblenz, Düsseldorf, die Eifelstädtchen und -dörfer, St. Martin und die Echternacher Springprozession erscheinen in Werken wie „Rheinlandstöchter“, „Die Wacht am Rhein“, „Das Kreuz im Venn“. Die Texte laden ein, sich auf das Prinzip einzulassen, das hinter ihnen hervorscheint: das Prinzip Heimat. Eine zur Heimat überhöhte Natur ist die zentrale Ordnungskategorie, die Viebig dem rasanten gesellschaftlichen Wandel zwischen Reichsgründung und Weimarer Republik entgegenstellt. Was ihre Texte aus dem üblichen Kitsch der Heimatkunst heraushebt - bei allen kolportagehaften und sentimentalen Elementen, die sie auch und teilweise im Übermaß enthalten - ist der Umstand, daß sie selbst die Tragfähigkeit des so emphatisch beschworenen Ordnungsprinzips ständig einschränken und in Frage stellen. Den Förstersohn in der Erzählung „Simson und Delila“, der sich an den geliebten Eifelboden drückt „wie an die Brust der Mutter“, rettet auch die Rückkehr in die Heimat nicht vor dem endgültigen Selbstverlust. Auf der Idylle Alt-Düsseldorfs in „Die Wacht am Rhein“ liegt bereits der Schatten des Verschwindens, und auch in ihrem bekanntesten Werk stellt Viebig einen unlösbaren Konflikt zwischen natürlicher und gesellschaftlicher Ordnung in den Mittelpunkt: Die Männer des „Weiberdorfes“ müssen, das heimatliche Eifeldorf verlassen und in den Städten des Industriereviers ihr Geld verdienen. Dem ‚unnatürlichen‘ Schicksal ihrer Frauen widmet sich der Roman, wie überhaupt weibliche Helden bei Viebig überwiegen.

Die detaillierte Genauigkeit ihres Schreibens, das dem Leser etwa in der schwierigen dialektal eingefärbten Sprache der Eifelbewohner einiges abverlangt, ihr an der Lektüre von Zola geschulter Naturalismus mit der Vorliebe für die Sphäre der sozial Deklassierten, bewahrt Viebigs beste Texte vor dem Abgleiten in schiere Sentimentalität. Das Ausgeliefertsein an die eigene Natur, die Prägung durch Abstammung und Milieu, durchkreuzen die überlieferten Ordnungsvorgaben, und auch das Prinzip Heimat taugt nur mehr dazu, an die Versöhnung des Menschen mit sich selbst zu gemahnen, nicht aber, sie herbeizuführen.

Es ist die überraschende Entdeckung bei der Lektüre dieser Texte, daß sie im Medium der Heimatliteratur selbst den unwiederbringlichen Verlust von Heimat bekräftigen. Wohin Ideologien führen konnten, in denen Phantasien von einer auf Blut und Boden aufbauenden deutschen Heimat eine zentrale Rolle spielten, das hat Clara Viebig in ihrem langen Leben leidvoll erfahren müssen, und dafür steht auch die Erinnerung an sie und an ihr Werk. Das Thema hat viele Facetten und zwingt zur intellektuellen Wachsamkeit. Gerade im heimatsüchtigen Deutschland, wo man so gerne Schlösser nachbaut.