„Ein König lebt, ein zorniger Fürst,
Nicht des Dichters geträumtes Königsbild,
Ein Tyrann, den der weiĂźe Sklave kennt,
Und der Dampf ist der König wild.
Er hat einen Arm, einen eisernen Arm,
Und obgleich er nur Einen trägt;
In dem Arme schafft eine Zauberkraft,
Die Millionen schlägt.
Wie der Moloch grimm, Sein Ahn, der einst
Im Thale Himmron saĂź,
Ist Feuersgluth sein Eingeweid’,
Und Kinder sind sein FraĂź.
Seine Priesterschaar, der Menschheit baar,
Voll Durst nach Geld und Gut,
Sie lenken, o Schand’!, seine Riesenhand
Und zaubern Gold aus Blut.
Sie treten in Staub das Menschenrecht
Für das schnöde Gold, ihren Gott,
Des Weibes Schmerz ist ihnen Scherz,
Des Mannes Thrän ihr Spott.
Ihr taubes Ohr hört nicht den Schrei
Des Armen im Todeskampf;
Skelette von Jungfrau’n und Knaben füll’n
Die Höllen des König Dampf…….“
Im frühen 19. Jahrhundert erregten die Dampfmaschinen wie kaum eine andere Maschine die Gemüter, weil ihre geräuschvolle Stärke als fremd empfunden wurde. Die von den Dampfzylindern ausgehende Kraft wurde in Allegorien dargestellt. Man schrieb den Maschinen ein eigenes, ja überirdisches Leben zu und sprach vom „König Dampf“ wie etwa Friedrich Engels in dem gerade vorgetragenen Gedicht von Edward P Mead aus dem Jahre 1843, das Engels aus dem Englischen übersetzt und 1846 veröffentlicht hat . Griechische Gotthei-ten und träumerische Feen, wie sie das „romantische Biedermeier“ mit seiner empfindsamen Innerlichkeit so liebte, waren verflogen. In Lyrik und Prosa der zwischen 1810 und 1830 geborenen deutschen Autoren war der Aufbruch in eine reale Welt der Arbeit, der Technik und des sozialen Umbruchs zu spüren. In der Tat: für die Zeitgenossen bestand kein Zweifel darüber, dass die Zeit in Bewegung geraten war. So bemerkte etwa Georg Weerth: „ Man sieht, wir leben in einer Zeit, wo sich alles rascher entwickelt als sonst“.
Ursache für diese beschleunigte Dynamik war der um 1800 in den westlichen preußischen Provinzen einsetzende, wirtschaftliche und soziale Wandel. In den gewerblichen Gebieten des Rheinlandes, insbesondere im Textil- und eisenverarbeitenden Gewerbe, wurden – aus England übernommen – neue Fertigungstechniken (Maschinenentwicklung, Dampfkraft) und Produktionsformen (Fabriksystem, Kinderarbeit) eingesetzt, die zu einem ersten „take off“ der Industrialisierung in Deutschland führten. Dabei traten gerade in dieser frühen Phase - hervorgerufen durch die Krisenanfälligkeit der neuen Wirtschaftsverhältnisse - die gesellschaftlichen Antagonismen (Arbeiter und Gewerbetreibende versus, Kaufleute und Kapitalgeber) in aller Schärfe zutage. Sie wurden zum Thema literarischer und journalistischer Auseinandersetzung. Auch die aus der Industrialisierung erwachsenen neuen Lebensformen wie die Beschleunigung des Verkehrs (Dampfschiffe, Eisenbahnen) oder der Nachrichtenübermittlung (Schnellpost, optischer Telegraph) führten zu einer neuen Wahrnehmung der Zeit und der erweiterten medialen Möglichkeiten.
Im Mittelpunkt der Betrachtung stand natürlich die Dampfmaschine und hier als eine beon-ders sinnfällige – weil öffentlich sichtbare und auch von jedermann nutzbare Anwendungsform: die Eisenbahn. Die Lokomotive wurde zur Metapher und zum Symbol der Neuen Zeit.
Was verstanden die Zeitgenossen darunter?
Ein Klassiker der Euphorie jener Zeit ist der folgende Satz von Friedrich List, dem Vorkämpfer des Deutschen Zollvereins aus dem Jahre 1835:
„Was die Dampfschifffahrt für den See- und Flußverkehr, ist die Eisenbahn-Dampfwagenfahrt für den Landverkehr, ein Herkules in der Wiege, der die Völker erlösen wird von der Plage des Krieges, der Theuerung und Hungersnoth, des Nationalhasses und der Arbeitslosigkeit, Unwissenheit und des Schlendrians, der ihre Felder befruchten, ihre Werkstätte und Schachte beleben und auch den Niedrigsten unter ihnen Kraft verleihen wird, sich durch den Besuch fremder Länder zu bilden, in entfernten Gegenden Arbeit und an fer-nen Heilquellen und Seegestaden Wiederherstellung ihrer Gesundheit zu suchen.“
1838 berichtete der Brockhaus von „brausenden Dampfkolossen“, die beschleunigt in eine „neue Zeit“ führen mit Völkerfrieden, Sittlichkeit und Freiheit. „Nach diesem göttlichen Ziel hat die Geschichte zwar von jeher ihren Lauf gerichtet, doch auf den stürmend vorwärts rollen-den Rädern der Eisenbahnen wird sie es um Jahrhunderte früher erreichen.“
Noch euphorischer gibt „Meyers Conversationslexicon“ in der Ausgabe von 1846 auf nicht weniger als 130 doppelspaltigen Seiten eine Bedeutungsbeschreibung für den Begriff „Eisenbahn“, die viel mehr ist als eine lexikalische Erläuterung: sie ist das Lebensprogramm der Epoche der Industriealisierung.
Der anonyme Autor geht von der Überzeugung aus, dass die Industrie einem Phönix gleich glühend und strahlend in Herrlichkeit auftrete und in einer Phase des Übergangs und der Gärung das einzig versöhnende Element der Einigung der „durch freien Assoziationsgeist“ miteinander verbündeten Menschen sei. Die Eisenbahnen seien „mit Riesenkraft zu einer Bedeutung emporgestiegen, welche sie zum Polarstern am Himmel der Kultur“ machen. Sie seien „der Messias für Volkswohlfahrt und Bildung… Durch die neuen Transportmittel wird der Mensch ein unendlich höheres, vermögenderes, vollkommeneres Wesen.“ Wie bei Jung-Stilling die Maschine überhaupt, so wird die Bahn zum Gottesgeschenk für die Interessen der gesamten Menschheit.
160 Jahre später sehen wir das etwas anders und es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass der konfliktbereite Herr Mehdorn trotz Börsengang 2009 Aspirant für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels werden könnte.
Dennoch, lassen Sie mich noch einmal zu diesem Lexikonartikel zurückkehren, denn dort wird am Ende das Verhältnis von Literatur und Technik diskutiert. Der Anonymus zitiert einen anderen Anonymus, der das Kardinalproblem der Dichter in der Phase der Frühindustrialisierung aufwirft:
„Es giebt keine lächerlichere Phantasmagorie als die, dass durch das Eisenbahnwesen die Prosa zur Herrschaft gelange und die Poesie verschwinde.“
Erledigt sei in der Tat die Poesie der flüchtigen Rosen; dafür treten bei weitem bedeutendere Gegenstände an ihre Stelle und die gelte es poetisch zu feiern.
„Welcher Anblick ist imposanter und zugleich begeisternder, der Anblick eines Wagengauls, der eine Miethkutsche mühselig im Koth langsam fortschleppt, oder der Anblick einer unabsehbaren Bahn, die mitten durch die Felder ihres Weges zieht, Gräben und Flüsse überspringt, durch Wälder fliegt, durch Moorgründe dringt, die Berggelände erklimmt, Brücken über die Abgründe schlägt, weiten Thälern das Joch auflegt und die Ebene durch den Bauch der Berge sucht? Dazu denke man sich die im Fluge auf metallenem Gleise daher brausende Maschine, das schöne Ungeheuer, mit dem Eingeweide voller Flammen und den Adern voll siedendem Wassers, ungestüm und gewaltig wie der Sturm und doch gehorchend der Hand eines Kindes. Sieht man sie von fern, während sie von den Bäumen am Wege zwischen den blumigen Wiesen, den bewaldeten Bergen und den prangenden Erndtefeldern dahingleitet, so ist nichts ihrer Eleganz, ihrer Behendigkeit, ihrer ruhigen, immer gleichen Grazie vergleichbar. Sieht man ihr nahe, während ihr Räderwerk lärmt, ihr Feuerheerd knistert, das Horn ihrer Esse zittert, ihre Hebel, wie ihre Luftklappen auf- und zuschlagen und hört ihr Schnaufen, währen der kleine Mensch auf dem Rücken des Ungeheuers, von Rauchwolken umhüllt und Funken umsprüht, so geruhig des Ungeheuers Lauf bald willkür-lich hemmt, bald beschleunigt: wer fühlt sich da nicht erhaben als Mensch durch das Schauspiel der gewaltigen Macht und der vollkommenen Sicherheit gegenüber der ungeheuersten Kraft.“
Nach solcher Sprachgewalt, ist man versucht zu urteilen, der Autor habe im prosaischen Schwung seiner geballten Metaphorik und treffenden technischen Beschreibung seine eigene Forderung, die Dichtung der Technik zu widmen, selbst sofort eingelöst. Auf jeden Fall gibt es in der fiktional-erzählerischen Prosa jener Zeit nichts Vergleichbares.
Apropos: „Zeit“ ich erwähnte eben, dass mit den neuen Techniken auch ein neues Zeitverständnis Einzug hielt.
In der Tat:
Industrieherrschaft ist Maschinenherrschaft.
Maschinenherrschaft ist Zeitherrschaft.
Zeitherrschaft ist Uhrenherrschaft.
Und es kam nicht von Ungefähr, dass gegen Ende des 18. Jahrhunderts arbeitsteilige Manufakturen Uhren und insbesondere Taschenuhren mit hoher Genauigkeit produzierten.
Uhren waren die Voraussetzung für die Synchronisation von in einander greifenden Produktionsabläufen. Uhren waren aber auch Instrumente eines strengen Zeitdiktats, dem sich die neuen Fabrikarbeiter zu unterwerfen hatten.
Die künstliche, rationelle und unerbittliche Arbeitszeit der Industrie löst die herkömmliche Natur-Zeit, die Zeit der Gestirne, den Lichttag, die Jahreszeit, kurz die naturnahe Zeit des vorindustriellen Menschen ab. Das war ein schwieriger Umstellungsprozess.
1860 wird in der Kruppschen Gusstahlfabrik ein weithin sichtbarer Uhrenturm errichtet.
Es entbrennt der Kampf gegen die erbarmungslose Ausdehnung der Arbeitszeit, gegen Pausenkürzung, Uhrenverstellung, Fabrikglocken. Die Dampfweber forderten 1863 nach einem Bericht von Karl Marx in Wiltshire – wie Karl Marx berichtete – die Aufstellung einer öffentlichen Uhr gegen den Zeitbetrug: die Maschine, die sie kontrollieren soll, benutzen sie zur Kontrolle der Kontrolleure.
Charles Dickens machte in „Hard Times“ 1855 die fürchterlich herzlose Uhr im Observatorium von Thomas Gradgrind zum Wappenzeichen des Fabrikanten, der jedes Stück menschlicher Natur wiegt, mißt und seinen Wert bestimmt.
„Zeit ist knapp, Zeit ist kostbar, Zeit ist Geld.“ Diese Propaganda rührt schon von Benjamin Franklin , und man braucht gar nicht so weit in die Neue Welt auszugreifen, denn bereits im pietistisch-reformierten Wuppertal wurde die Vernunftehe von protestantische Ethik und dem Geist des Kapitalismus – so Max Weber - aktiv gelebt.
Das Diktat der Zeit wird selbstläufig zum Diktat der Geschwindigkeit, und so zum Maß aller Dinge. Eine zur Totalität drängende Verzeitlichung greift um sich – ein Umschwung vom zir-kulär wiederholenden zum linear-progressiven Zeitverständnis tritt ein.
„Die Zeit wird dynamisiert zu einer Kraft der Geschichte selber“ so resümierte der Historiker Reinhard Kosellek.
Doch kehren wir aus den Höhen geschichtstheoretischer Betrachtung zurück ins Rheinland um 1800 und analysieren wir diese Umbruchzeit zunächst einmal unter dem Gesichtspunkt nüchterner wirtschafts- und sozialgeschichtlicher Fakten : Nach wie vor gaben vor 200 Jahren die geoökonomischen Bedingungen der Landschaftsräume den Rahmen ab für Wirtschaft und Gesellschaft im nördlichen Rheinland. Zu unterscheiden sind die niederrheinische Bucht mit ihrer überwiegend landwirtschaftlichen Nutzung und die beiden links- und rechtsrheinischen Bergregionen mit ihrer gewerblichen Struktur, die sich aufgrund der nutzbaren Energie - vor allem der Wasserkraft und der Bodenvorkommen (Erze, Steinkohle) - sowie durch die langfristige Wirkung der Realerbteilung herausgebildet hatte. Gerade im rechtsrheinischen Bergischen Land finden wir aus diesen Gründen seit dem 16. Jahrhundert eine ausgeprägt gewerbliche Struktur der Kleineisen und Textilfabrikation. Eine Zäsur bildeten die „französischen Jahre“ 1794 – 1815 mit den Reformen in Verwaltung und Wirtschaft (Code Civil 1804, Code de Commerce 1808) und ihrer Übertragung auf das Großherzogtum Berg 1810, das zum Kernland der industriellen Entwicklung am Rhein werden sollte.
Zwar hatte es mit der Kontinentalsperre eine Unterbrechung der traditionell engen Handelsbeziehungen mit dem Westen gegeben, die das exportorientierte Textilgewerbe hart traf. Mit dem Übergang der Herrschaft am Rhein an Preußen waren die politischen Handelsbarrieren zumindest für das Königreich mit etwa 10 Millionen Menschen 1818 grundsätzlich gefallen. 1834 eröffnete der Zollverein ein Wirtschaftsgebiet von 23,5 Millionen Menschen, die ohne Zollbehinderun-gen beliefert werden konnten. Die Rheinschifffahrtsakte von 1831 erleichterte den Transithandel zu Nordsee. Überhaupt war der Verkehr mit den Niederlanden, Belgien und Frankreich ausgesprochen intensiv.