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Joseph A. Kruse: „Berg’ und Burgen schau’n herunter“

Literarische Rheinbilder und kulturelle Identifikation im 19. Jahrhundert

1.
Der Rhein, so konnte die sechste Auflage von „Meyers Großem Konversations-Lexikon“ zu Anfang des 20. Jahrhunderts im Jahre 1909 als Summe der Überzeugung des vorausgegangenen Säkulums stolz, aber gemäß wissenschaftlicher Distanz völlig sachlich in seinem Schlagwortartikel „Rhein“ vermelden, sei „einer der Hauptflüsse Europas, der ansehnlichste Deutschlands, vielbesucht wegen seiner romantischen Ufer“. Ein eigener, ziemlich euphorischer Eintrag galt dabei im folgenden der Spezialität „Rheinweine“. Sie seien „von trocknem, pikantem Geschmack und köstlichem Bukett, das kein andrer Wein in solcher Fülle und Kraft besitzt“; „mäßig getrunken“ übertreffe „ihre diätetische Wirkung, namentlich bei alten Leuten, diejenige aller bekannten Weine“; sie ließen sich, so wird als Symbol der die Zeiten und Generationen überdauernden Qualität dieses deutschen Lebenselixiers im Ernst hinzugefügt, „bei richtiger Behandlung jahrhundertelang aufbewahren“.
Der so gelobte Strom und sein Erzeugnis haben in der Tat vor allem im 19. Jahrhundert eine Hochblüte künstlerischer Akzeptanz erfahren. Die Donau oder die Elbe waren für die kulturelle Identifikation in Deutschland nicht von derselben Bedeutung.

Dichter, Maler und Musiker bemühten sich in unaufhörlichem Wettstreit, den Rhein und die damit einhergehende Weinseligkeit zu verherrlichen, das Lob der beseelten Flußlandschaft zu mehren, die historische wie politische Bedeutung der natürlichen Grenze zu beschwören, bis endlich die verständliche Bewunderung und Mythisierung des Rheins in Kitsch und Kommerz untergingen. Ganz wird man sich dennoch auch heute nicht seinem Zauber entziehen können. Nicht umsonst blieb der Rhein nach dem Zweiten Weltkrieg während der Jahre der Bonner Republik ein beliebter Vorzeigeort landschaftlicher Schönheit. Selbst der japanische Ministerpräsident Yasuhiro Nakasone widmete ihm und der hundertfach besungenen „Lorelei“ bei seinem Staatsbesuch im April 1985 das folgende Haiku, das dem tradierten Lokalkolorit und der Neigung, einen bevorzugten kartographischen Punkt mit der Poesie zu verknüpfen, Tribut zollt. In seinem Heimatland gehört eine solche Übung gewissermaßen zur religiösen Praxis:

Das Tal, die jungen Blätter und der trockene
Geschmack des örtlichen Weins
Bieten sich uns an, während unser Boot
Den Felsen der Lorelei passiert.


2.
Die 1.320 Kilometer des Rheins bis zur Nordsee wurden, vor allem in ihrer eindrucksvollsten und bewundertsten Strecke von Mainz bis Köln, im 19. Jahrhundert zum Gegenstand einer Sonderform jener literarischen und kulturellen Bewegung, die nach den klaren Höhen der Klassik wieder der Tiefe, der Sehnsucht, der Unendlichkeit und dem Mittelalter Ausdruck zu verleihen suchte: der Rheinromantik. Ihr wird denn auch inzwischen längst, im Unterschied zum eingangs zitierten Meyer, in der Brockhaus-Enzyklopädie von 1972 ein eigener Artikel eingeräumt, der sich seinerseits auf die Literatur über dieses Thema berufen kann, die seit Anfang der 1920er Jahre beispielsweise durch Ernst Bertram und Oskar Walzel reichlich fließt.

Die „Rheinromantik“ bedeute „die Verherrlichung des Rheintals als geschichtsträchtiger, malerischer, romant. Landschaft“, heißt es dort. Davon kann in der Tat die üppigste Rede sein. Die Rheinromantik umfaßt seit Anfang des 19. Jahrhunderts trotz der aufkommenden Technisierung, Verkehrsentwicklung und Vermarktung sämtliche folgenden Jahrzehnte und vermag sich selbst die politischen Veränderungen im Vormärz, die schärferen nationalen Töne und sogar die nach der Revolution von 1848 und bis ins Wilhelminische Kaiserreich hinein wirkenden Umwälzungen unter dem Signum der „Sehnsucht nach einer idealen Landschaft“ einzuverleiben. Selten haben somit die kulturwissenschaftliche Beschreibung und ihr Gegenstand in Gestalt einer abgeleiteten begrifflichen Hilfskonstruktion, wie es das Wort Rheinromantik darstellt, zu einer derart engen Identifikation gefunden und eine so erstaunlich langlebige Existenz erlangt. Für das Hauptschlagwort von einer europäischen Romantik ist das insgesamt in dieser dauerhaften Weise nicht möglich gewesen.

Es widerspräche auch allen einschlägigen Erfahrungen mit dem üblicherweise raschen Wechsel von literarischen Epochen und Abschnitten.
Mit den „Engländern am Rhein“, wie eine satirische Gedichtfolge als Begleittext für eine geplante Bilderfolge der Düsseldorfer Künstler von Heinrich Hoffmann von Fallersleben heißt, war der Rhein-Tourismus geboren, der nicht ohne Hektik und Streß vonstatten ging. Dichtung und künstlerische Darstellung englischer Provenienz sind mit den verschiedensten, sogar hoch berühmten Namen verknüpft: Darunter befinden sich Lord Byron mit seinem Reisegedicht „Childe Harold’s Pilgrimage“ von 1812 bis 1818, an dessen Übersetzung durch kleine Proben sich auch Heinrich Heine beteiligte; Mary Shelley mit ihrem das Rheintal als Raststätte für ihren Protagonisten nutzenden Schauerroman „Frankenstein, or the Modern Prometheus“ von 1818, nachdem sie ein Jahr zuvor mit Mann und Stiefschwester bereits den Reisebericht „History of a Six Weeks Tour“ vorgelegt hatte; oder William Turner, der den Rhein zwischen 1817 und 1844 ganze elf Mal besuchte und zahlreiche Studien und Aquarelle geschaffen hat. Die englischen prächtigen Ansichtenbände und gedruckten Reiseführer überschwemmten den Markt und prägten die touristische, geradezu standardisierte Verwertung des Landschaftserlebnisses. Aber auch die Franzosen, für die der Rhein wiederum durchaus politische Konnotationen besaß, trugen ihren poetischen Tribut bei: Von Victor Hugo bis Guillaume Apollinaire reichen die literarischen Stimmen.

Hoffmann von Fallersleben hat die englische Reisewut 1846 aufs Korn genommen. Allerdings bleiben seine Witze stumpf und hätten in der Tat der künstlerischen Beigaben bedurft. Dennoch soll ein kleines Beispiel zitiert werden, in dem sich die Hoffmannsche Harmlosigkeit mit der englischen, gewissermaßen omnipräsenten Reisesitte gleichermaßen treffen. Als roter Faden diene wiederum die Loreley; die fünf Zeilen der 19. Station im Hoffmannschen Text wurden mit „Lurlei“ überschrieben:

Hier bläst vor dem Lurleifelsen S i r J u g
Auf seiner Schalmei ein Meisterstuck.
Er hat sie von Meieringen mitgebracht,
Der Kasten ist von Mahagoni gemacht.
Das Echo ihm über die Maßen gefällt:
Es klingt sehr lieblich, denn es kostet kein Geld.


3.
Von den „grünverschleyerten, vornehmen Engländerinnen“, die in der Düsseldorfer Bolkerstraße „das berühmte Haus“ mit seiner Geburtsstube besuchen würden, hatte Heinrich Heine schon zwanzig Jahre früher im VI. Kapitel seines autobiographischen „Reisebilds“ mit dem Titel „Ideen. Das Buch Le Grand“ witzig fabuliert, dort auch seine rheinische Herkunft nach manchen Mystifikationen im vorangehenden Kapitel liebenswürdig zelebriert. Es heißt dort nämlich: „Nein, ich bin nicht geboren in Indien; das Licht der Welt erblickte ich an den Ufern jenes schönen Stromes, wo auf grünen Bergen die Thorheit wächst und im Herbste gepflückt, gekeltert, in Fässer gegossen und ins Ausland geschickt wird“ - Und schließlich: „O, da ist ein schönes Land, voll Lieblichkeit und Sonnenschein. Im blauen Strome spiegeln sich die Bergesufer mit ihren Burgruinen und Waldungen und alterthümlichen Städten.“

Vor allem aber in seinen Versen hat Heine zur Rheinromantik beigetragen, die durch Arbeiten von Friedrich Schlegel, Friedrich Hölderlin, Achim von Arnim, Clemens Brentano und anderen zu Anfang des 19. Jahrhunderts ihren Ausgang genommen hatte. Zumal in Märchen und Sagen ließen sich der Charakter dieser Landschaft und die Erwartungen, die mit ihr verknüpft waren, am besten ausdrücken. Darunter kommt der von Brentano geschaffenen Überlieferung, die den Loreleifelsen betrifft, die nachhaltigste Wirkung zu. Daneben hat jedoch die politische Interpretation immer eine große Rolle gespielt. „Das Lied vom Rhein“ mit seinen neun Strophen, das Max von Schenkendorf 1814 geschrieben hat, wird noch mit seinen beiden ersten und der letzten Strophe als Motto in der 34. Auflage vom „Handbuch für Reisende“, das 1931 „Die Rheinlande“ betrifft, herangezogen. Die letzte Strophe lautet und hat längst die ein Vierteljahrhundert später während der sogenannten Rheinkrise angeschlagenen Töne im Gedicht „Der deutsche Rhein“, das Nicolaus Becker an Alphonse de Lamartine gerichtet hat, vorweggenommen:

Wir huld’gen unserm Herrn,
Wir trinken seinen Wein.
Die Freiheit sei der Stern!
Die Lösung sei der Rhein!
Wir wollen ihm aufs neue schwören;
Wir müssen ihm, er uns gehören.
Vom Felsen kommt er frei und hehr,
Er fließe frei in Gottes Meer!


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