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„Die grässlichste Handschrift der Erde“

Peter Hilles Briefe galten lange Zeit als nicht entzifferbar und unverständlich. Nun liegen sie erstmals in einer kommentierten Ausgabe vor.

So intensiv in den letzten rund einhundert Jahren auch über Peter Hille geforscht wurde – seine Korrespondenz blieb meist außen vor. Die Gründe hierfür sind vielschichtig. Hilles Briefe sind so fragmentarisch und heterogen, dass sich für Nicht-Eingeweihte kaum ein Verständnishorizont einstellt. Zudem ist der Materialfundus kaum überschaubar. So saumselig der „Erzbohemien“ und „Literaturzigeuner“ mit seinen literarischen Werken umging, so nachlässig verfuhr er auch mit seinen Briefen.


Hinzu kommt, dass Hilles Handschrift ein wahrer Gräuel ist: Sie gleiche einem „Rührei“, so „schrecklich“ sei sie, schrieb Detlev von Liliencron einmal seinem Freund Theodor Nöthig. Es sei die „grässlichste der Erde“. „Mensch, du verdirbst Dir Dein ganzes Leben dadurch noch!“ ermahnte Liliencron Hille mit einem Ausrufezeichen, bevor auch er kapitulierte. Otto Julius Bierbaum urteilt gleichlautend, „chinesische Grasschrift“ sei „Lithografie“ gegen Hilles „Klaue“. Hille blieb jedoch unbelehrbar. Kaum ein Schriftsteller hat seinen Editoren derartige Stolpersteine in den Weg gelegt. Hilles Briefe und Manuskripte gleichen oft einem Puzzle, das man sich aus einem Wirrwarr von Nachschriften, Einschüben und Kreuz-und-Quer-Gekritzeltem mühsam zusammensetzen muss.

In der Forschung fristeten die Briefe jahrzehntelang ein Schattendasein. In der ersten Gesamtausgabe, die Julius und Heinrich Hart bald nach Hilles Tod herausgaben, fehlen sie ganz. Es dauerte rund achtzig Jahre bis zur ersten Zusammenstellung im Rahmen der Gesammelten Werke 1984-1986. Dort bildete die Korrespondenz im sechsten und letzten Band jedoch nicht mehr als ein Anhängsel. Es fehlte ein Editionsbericht, erst recht ein Kommentar.


Eine Neuedition der Hille-Briefe legte 2004 Martin M. Langner vor. Durch ihren Zugewinn an Material – die Zahl der Briefe wuchs von 114 auf 133 Briefe –, die chronologische Anordnung der Briefe und die Verzahnung von Briefen und An-Briefen stellte die Ausgabe zweifellos einen Fortschritt dar. Es fehlten jedoch auch hier allgemeine Hinweise zur Überlieferungslage, eine Diskussionen unsicherer, gleichwohl relevanter Datierungen sowie Angaben zum Absender oder Adressaten. Der gravierendste Mangel ist jedoch auch hier das Fehlen eines Kommentars. Ein solcher ist unerlässlich, um Hilles Korrespondenz zu erschließen. Es wimmelt darin nur so an zeitgenössischen Bezügen und literarischen Anspielungen. Oft beließ es Hille bei Stichpunkten und konnte dabei voraussetzen, dass sie vom Korrespondenzpartner verstanden wurden. Dem heutigen Leser erschließen sich solche Zusammenhänge oft erst nach mühsam recherchierten Umwegen.

Doch es lohnt sich! Hilles Briefe liefern den entscheidenden Schlüssel zu Leben und Werk des Autors. Sie geben – fern jeder Vorinterpretation – authentisches Material über ihn an die Hand und stellen auf diese Weise Zusammenhänge her, die für jede Hille-Rezeption evident sind bzw. sein sollten: hinsichtlich der literarischen Texte des Autors, seiner literaturtheoretischen Position, seiner literarhistorischen Einordnung, vielem Weiterem mehr. Stichworte lauten etwa Genieästhetik, Exzentrik, Esoterik, Aufbruchsstimmung um 1900, Literarische Richtungskämpfe, Kunsttheorie, alternative Lebensformen und Natursehnsucht, Organisationsformen des literarischen Lebens.


Die Briefe zeigen Hille als reale Existenz, nicht infiziert, sondern befreit vom Ballast eines omnipräsenten Hille-„Mythos“, der den Autor lange Zeit auf einen gottestrunkenen Impressionisten und Mystiker reduzierte. Dies trug mit dazu bei, dass Hille bei der Erforschung der Literatur der Jahrhundertwende mehr und mehr in den Hintergrund trat. Neu entwickelte, alter¬native Fragestellungen wurden kaum mit seinem Werk in Verbindung gebracht. So galt es um so mehr, Hille im Licht neuerer Forschungen zu positionieren und zu profilieren.

Mit der von Nils Rottschäfer erarbeiteten neuen Hille-Briefausgabe steht der Hille-Forschung nun ein kritisches Instrument zur Verfügung, das nicht mehr ignoriert werden kann. Es lassen sich Kontextualisierungen herstellen, die den Autor in einen zwar nüchternen, aber realen literarhistorischen Bezugsrahmen rücken. Der Blick öffnet sich für eine möglichst unbefangene Sicht auf den Autor, den es für die „große Literaturgeschichte“ zu rehabilitieren gilt. Es steht in der Tat ein „anderer“, ein säkularisierter Hille vor uns, der weitläufige Recherchen rechtfertigte, ja dringend herausforderte.

Walter Gödden