Lobt man einen Autoren, der keinem Millionenpublikum bekannt ist und dazu noch aus der eigenen Heimatstadt kommt, erntet man bisweilen etwas mitleidige Blicke: da sei man wohl aufgrund der eigenen lokalen Verbundenheit einem drittklassigen Heimatdichter auf den Leim gegangen. Daß es bei Hermann Harry Schmitz um einen Künstler handelt, dessen viel zu kurzes Leben und dessen Werk von mindestens deutschlandweitem Interesse sein sollte, hat sich in der betreffenden Redaktion schnell herumgesprochen.
Um das mit großem Gelächter ausgezeichnete Ergebnis der Überzeugungsarbeit an die breite Öffentlichkeit zu bringen, suchten und fanden wir einen Kenner, der wie kaum ein anderer über den „Dandy vom Rhein“ und seine Grotesken bescheid weiß. Dieser Fachmann ist Dr. Michael Matzigkeit, hauptberuflich Leiter der Sammlung des Düsseldorfer Theatermuseums, Herausgeber einiger Schmitz-Ausgaben und zahlreicher Fachlektüren aus dem Bereich der Theaterwissenschaften.
Mit ihm sprach Dirk Jürgensen im November 2004
Jürgensen: Herr Dr. Matzigkeit, wann und wie begannen Sie sich für Hermann Harry Schmitz (HHS) zu interessieren?
Matzigkeit: Es war so um 1980 herum, da machte mich ein Kommilitone an der Uni auf HHS aufmerksam. Er drückte mir die Sonderausgabe aus dem Diogenes-Verlag in die Hand und forderte mich zum Lesen auf. Normalerweise habe ich so meine Probleme mit Leseempfehlungen. Aus dieser Abneigung heraus habe ich auch selten ein Buch gelesen, das gerade in Mode war. In diesem Fall machte ich eine Ausnahme. Mit weitreichenden Folgen.
Ich besorgte mir, wie ich das bei starker Begeisterung dann meistens tue, alles was damals - vor den Segnungen des ZVAB.de - irgendwie greifbar war und hatte bald schon eine Sammlung aller relevanten Auflagen. Mein Schmuckstück ist ein Widmungsexemplar von Hermann Harry Schmitz an seinen Freund Dr. Paul Oberloskamp aus dem Jahre 1911. Diese Ausgabe des „Säugling“ hatte vielleicht eine Start-auflage von maximal 500 Exemplaren und ist auch als „normales“ Exemplar so gut wie nicht zu beschaffen. Leider wußte auch der Antiquar, was er mir da anbot.
Dann kam die Idee auf, zum 70. Todestag von HHS 1983 eine umfassende Ausstellung zu organisieren. Das war damals keinesfalls selbstverständlich. Schmitz kannten nur ein paar Eingeweihte. Zumindest bildete ich mir das ein. Dagegen spricht, daß dieser Autor seit 1911 ohne wirklich große Unter-brechungen kontinuierlich auf dem deutschsprachigen Buchmarkt vertreten war und auch noch ist. Nimmt man alle Ausgaben zusammen, so sind bis heute sicherlich 200.000 Exemplare von diesem Autor verlegt worden, von dem viele immer noch glauben, er müsse noch einmal wiederentdeckt werden.
In einem renommierten Literaturinstitut wie dem Heinrich-Heine-Institut eine solche Ausstellung zu zeigen, war in den frühen 80er Jahren noch undenkbar. Durch Vermittlung eines alten Düsseldorfer Schriftstellers Josef F. Lodenstein, der auch über HHS publiziert hatte, erhielt ich den Kontakt zu Dr. Wieland König vom Düsseldorfer Stadtmuseum, der sich auf das Wagnis einließ. Und so konnte Ende Mai 1983 mit knappsten Mitteln, vielen Originalen aus dem hauseigenen Fundus und noch mehr Elan eine repräsentative Ausstellung eröffnet werden, zu der auch eine schmale, heute bereits selten gewordene Publikation erschien. (Der Schriftsteller Hermann Harry Schmitz. Gemälde, Grafik, Dokumente. Düsseldorf: Stadtmuseum, 1983)
Damit nicht genug: eine Ausgabe mit sämtlichen druckenswerten Texten von HHS sollte her. Durch meine eigene Sammlung wußte ich, daß nicht alle Textausgaben der Vergangenheit zuverlässig waren. So mancher Herausgeber hatte den Geschichten - ohne Einspruchsmöglichkeit des lange verblichenen Autors - seinen eigenen Stempel aufgedrückt. In den 40er Jahren wurden manche Texte von dem literarischen Nachlaßverwalter Victor M. Mai auch in vorauseilendem Gehorsam schlichtweg gefälscht. Stichproben ergaben, daß die Texte der Buchfassungen häufig auch von den Erstveröffentlichungen im „Düsseldorfer General-Anzeiger“ (heute: Westdeutsche Zeitung) abwichen. Also sah ich meterdicke Stapel des „General-Anzeigers“ durch und hatte schließlich den größten Teil der Buchveröffentlichungen nun auch in der Zeitungsfassung vorliegen.
Die Suche nach einem mutigen Verleger gestaltete sich einigermaßen schwierig. Einige sagten zunächst zu, sprangen dann aber im letzten Augenblick wieder ab, weil sie das finanzielle Risiko scheuten. So auch der Claassen Verlag in Düsseldorf, zu dessen damaligem Lektor Bruno Kehrein ich durch die Ausstellung engen Kontakt erhielt. Wir beschlossen daher, das Projekt auch außerhalb des Claassen Verlages gemeinsam weiterzutreiben.
Um es abzukürzen: In dem Schweizer Verleger Haffmans, der Schmitz noch aus seinen Lektoratszeiten im Diogenes-Verlag kannte, fanden wir einen verständigen, interessierten Partner, der den Kölner Buchkünstler Nikolaus Heidelbach für die Gestaltung der nun dreibändigen Ausgabe gewinnen konnte. Kongenial im Schmitz‘schen Sinne radikalisierte Heidelbach die Einbandgestaltung von Emil Preetorius von 1911, die während der Nazizeit ebenfalls verfälscht worden war. „Juden“ und „Zigeuner“ hatten zu dieser Zeit nichts mehr in einer Titelblattgestaltung zu suchen! Nach umfangreicher editorischer Tätigkeit, die sich zum Beispiel in Anmerkungen zu jeder Geschichte und einer Bibliographie sämtlicher bis dahin erschienenen Ausgaben niederschlug, konnte diese dreibändige Werkausgabe 1988 erscheinen.
Jürgensen: Warum sollte HHS gerade heute wieder gelesen werden?
Matzigkeit: Ich kann Ihnen nicht sagen, warum HHS gerade heute gelesen werden sollte. Schmitz ist ein Autor, der es uns durch seine Themenwahl (Konsum, Technik, Spießer etc.) und durch seine unauffällig moderne Sprache heute immer noch leicht macht, daß wir uns auf seine Texte einlassen, die nun bald 100 Jahre auf dem Buckel haben.
Natürlich ist es auch sein besonderer Blick auf die Dinge, der immer noch schallendes Gelächter provoziert. Es ist die treffende Konstruktion des Menschlich-Allzumenschlichen, in die sich der Autor sympathischerweise voll mit einbezieht.
Wären seine Geschichten reine Satiren, würden sie ihre Sprengkraft wegen der zeitbedingten Komik längst eingebüßt haben. Komik funktioniert ja zu allen Zeiten nur mit einem verständnisbereiten Gegenüber.
Aber bei ihm kommen ja auch starke groteske Elemente vor. Dinge werden mit einander kom-biniert, die nicht zusammengehören und die so Grauen oder Erstaunen hervorrufen. Alles in allem kommen uns aber die Problemstellungen der Geschichten sehr vertraut vor. Sympathie entsteht vielleicht auch deswe-gen, weil HHS auf kaum zu imitierende Weise – stellvertretend für uns – den unaufhaltsamen Gang der Zerstörung der auch von uns als schlecht empfundenen Wirklichkeit heraufbeschwört und uns so ein Ventil für unsere eigenen Aggressionen schafft.
Jürgensen: Menschen suchen nach Kategorien. Das was uns von seinem Lebenswerk greifbar erhalten ist, sind seine Geschichten, ist sein schriftstellerisches Werk. Mit welchem heute bekannten Künstler wäre das Werk Schmitz zu vergleichen?
Matzigkeit: Hier kann ich kaum weiterhelfen. Vergleiche mindern die miteinander Verglichenen. Ich empfehle eher den direkten Zugang. Schubladendenken hilft da nicht weiter. Was nützt Ihnen der Begriff „Kafka fürs Volk“, „Frühsurrealist“ etc. Sagen Sie selbst!
Jürgensen: Volle Zustimmung, doch ich wiederhole den Fehler: Oft ist man auf der Suche nach einem landes- oder ethnotypischen, vielleicht englischen, jüdischen oder rheinischen Humor. Kann eine solche Suche auch bei HHS erfolgreich enden?
Matzigkeit: Eine Frage von philosophischer Tragweite, die in der regionalbezogenen Germanistik seit Jahrzehnten diskutiert und immer wieder auf unterschiedlichste Weise beantwortet worden ist. Der mit am rheinischsten empfundene Kabarettist Konrad Beikircher, der sich auch bereits öffentlich als Schmitz-Freund geoutet hat, ist nebenbei gesagt Südtiroler.
Und doch scheint es da Etwas zu geben, das nicht nur an der mundartlichen Färbung hängt, was uns alle immer wieder den Griff in die Mottenkiste regionalspezifischer Zuschreibungen nahelegt. Wirklich plausible Lösungen habe ich noch nicht gehört und kann es wahrscheinlich auch gar nicht geben, da sich durch den kulturellen Transfer Vieles noch mehr zu mischen beginnt, als es das seit Jahrhunderten ohne-hin bereits tut. Sonderentwicklungen durch Abgeschiedenheit gehören wohl endgültig der Vergangenheit an.
Jürgensen: Zurück zum Individuum also. Wie könnte man Hermann Harry Schmitz den heutigen Menschen begreifbar machen? Als Prä-Dadaist, als menschliches Gesamtkunstwerk, als Heilung oder Ablenkung suchender Kranker, als satirisch schreibender Entertainer, als humorvoller Gesellschaftskritiker oder als Kind einer aufstrebenden und schon dekadenten Oberschicht?
Matzigkeit: Verzeihen Sie, ich müßte mich da wiederholen. Ich behaupte, daß man HHS nur durch ihn selber begreifen und begreifbar machen kann. Mit Inhalt, Form und Ton hat er etwas durchaus Einmaliges, Originäres im deutschen Sprachraum. Vergleiche mit der „englischen Note des schwarzen Humors“ hinken begreiflicherweise, auch wenn ich sie gelegentlich selber verwende.