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Andreas Schumann: Heimat denken

Rezension von Sabine Brenner

Bereits vor ihrer Veröffentlichung hat die Habilitationsschrift von Andreas Schumann fĂŒr reichlich GesprĂ€chsstoff gesorgt. Als der Germanist anlĂ€ĂŸlich der Tagung Regionalliteraturforschung heute?! im Mai 2000 Teilergebnisse seiner Studie in MĂŒnster vorstellte, fĂŒhrte dies zu einer kontroversen Diskussion. Schumann vertrat die provokante These: "Heimat ist ĂŒberall gleich" und verwies auf strukturidentische Topoi in der Heimatliteratur des 19. und frĂŒhen 20. Jahrhunderts:


"Auf der paradigmatischen Achse [...] sind die einzelnen ‚Heimaten‘ in jeder Hinsicht austauschbar. Da hilft es wenig, wenn immer noch neue Regionalliteraturgeschichten erscheinen – sie alle suchen doch nur nach dem Spezifischen, Abgrenzbaren und perpetuieren damit zumindest teilweise die Traditionen des 19. Jahrhunderts."


Schumann regte in seinem Tagungsbeitrag an, nicht mehr die Art und Weise, sondern die Funktionen regionalen Sprechens zu untersuchen. Von diesem Erkenntnisinteresse lĂ€sst sich auch seine eigene ideologegeschichtliche bzw. -kritische Studie leiten, die den programmatischen Titel Heimat denken trĂ€gt. GlĂŒcklicher Weise wird der Begriff ‚Heimat‘ bei Schumann nicht – wie sonst so oft in der Forschungsliteratur – zur black box, "in der die unterschiedlichsten Inhalte verschwinden und transformiert werden". Schumann behandelt ‚Heimat‘ als einen historisch wandelbaren Begriff, der gesellschaftlichen EntwĂŒrfen und Wunschvorstellungen entspricht. Seine Studie spĂŒrt den kulturellen Wertigkeiten und den damit verbundenen VerĂ€nderungen von ‚Heimat‘ nach:

"‚Heimat denken‘ soll als Bezeichnung fĂŒr die kulturelle Auseinandersetzung mit einem politisch fundierten Regionalismus verstanden werden. Dabei spielt es zunĂ€chst einmal keine Rolle, ob diese Auseinandersetzung sich partikularistischen Autonomiebestrebungen in mehr oder minder aggressiver Weise verschreibt [...]. Die Frage ist vielmehr, wie sich ‚Heimat‘ als gedankliche Figur in kulturellen Äußerungen mit dem Zweck der Selbstvergewisserung, der Integration in eine Umwelt und Gruppe sowie der Betonung des Eigenen darstellt, und in welcher Form die Abgrenzung gegen ein grĂ¶ĂŸeres Ensemble wie das der Nation vorgenommen wird."


Schumann verfolgt also einen konstruktivistischen Ansatz, der sich seit Benedict Andersons geschichtswissenschaftlichem Standardwerk zu den imagined communities (Deutscher Titel: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts) mittlerweile auch in der Literaturwissenschaft durchsetzt. SelbstverstĂ€ndlich grenzt er sich damit auch gegen stammesontologische und (prĂ€-)faschistische Interpretationsmodi wie die von August Sauer und seinem akademischen SchĂŒler Josef Nadler ab:


"Nicht nur die Setzung nicht nĂ€her erklĂ€rbarer Begriffe wie ‚Volkstum‘, ‚stammheitlich‘ oder ‚Eigenart‘, die obskur genug sind, um nur noch emphatische Reaktionen herauszufordern, zwingt zur Ablehnung des Verfahrens von Sauer und Nadler; die gesamte Geschichtskonstruktion, die hier zugrunde gelegt wird, ist unsinnig, da in dieser Konzeption historische Entwicklungen zwangslĂ€ufig auf ein klar definiertes Ziel [die ‚StĂ€mme‘ und ihre ‚Eigenarten‘] zusteuern."


Als Quellenmaterial fĂŒr seine Untersuchung hat Schumann in erster Linie Anthologien, Almanache und JahrbĂŒcher literarischer Vereine herangezogen, da sie im 19. Jahrhundert eine entscheidende Rolle fĂŒr die Herausbildung eines regionalen Bewußtseins gespielt haben. Er analysiert damit Texte, die gewiß von eher zweifelhafter literarischer QualitĂ€t und OriginalitĂ€t sind. DafĂŒr zeugen sie umso deutlicher von dem BemĂŒhen, sich durch die Betonung des ‚Eigenen‘, ‚Heimatlichen‘ von dem ‚Anderen‘, ‚Fremden‘ abzugrenzen. Schumann arbeitet in diesem Zusammenhang heraus, dass Volkslieder "soziale Sicherheiten" und Sagen "historisch-kulturelle Sicherheiten" suggerieren sollen. Auch der im Forschungsdiskurs eher stiefmĂŒtterlich behandelten Mundartdichtung widmet Schumannein eigenes Kapitel seiner Arbeit. In ihr manifestiert sich seiner Meinung nach der Wunsch nach AuthentizitĂ€t:


"Das eingeforderte und verteidigte ‚Authentische‘ ist eine Konstruktion, eine Setzung ‚ursprĂŒnglicher‘, in der Regel bĂ€uerlicher Lebensweisen, die möglichst unverĂ€ndert bewahrt oder aber im Gegenzug zur ‚bedrohlichen‘ ModernitĂ€ten wieder herzustellen sei."


Neben den aufschlußreichen Textanalysen bietet Schumanns Studie einen Einblick in die FunktionszusammenhĂ€nge von regionaler Literatur im 19. und frĂŒhen 20. Jahrhundert. So untersucht er beispielsweise die AnlĂ€sse heimatlicher Dichtung und legt das Interesse von Vereinen, Schulen und Wissenschaften an Heimatliteratur offen. Dabei gelingt es Schumann immer wieder, ZusammenhĂ€nge zwischen den öffentlich wirksamen Vorstellungen von ‚Heimat‘ und ‚Nation‘ aufzuzeigen, die sich "etwa zeitgleich und in Verbindung miteinander" entwickeln:


"Im Gegensatz zum Konzept der ‚Nation‘ unterliegt ‚Heimat‘ allerdings keinen parteipolitischen oder konfessionellen FlĂŒgelkĂ€mpfen – jedenfalls ließen sich in den Quellen keinerlei Anzeichen dafĂŒr finden. Dies soll allerdings nicht bedeuten, daß sich bestimmte ideologische Positionen wie gerade die völkische Bewegung um die Jahrhundertwende nicht des Heimatbegriffs bedienten, um ihre Ideen zu formulieren und einer Öffentlichkeit vorzustellen. Doch diese Möglichkeiten der politischen Anpassung und der unterschiedlichen Interpretation des Konzeptes ‚Heimat‘ setzen dessen EinĂŒbung und PopularitĂ€t voraus."

Insgesamt ist Heimat denken eine spannende Studie, die sich durch ihren interessanten methodischen Ansatz und die erkenntnisreiche Auswertung von Anthologien, JahrbĂŒchern und anderen zum Teil entlegenen Materialien auszeichnet. Schumann erliegt dabei nicht der Gefahr, sich in dieser PublikationsfĂŒlle zu verlieren. Vielmehr behĂ€lt er immer das GespĂŒr fĂŒr wesentliche Aspekte, die er pointiert und provokant zu formulieren weiß. Seine These von der strukturellen Gleichförmigkeit von ‚Heimaten‘ wird wahrscheinlich – wie auch einige andere seiner Thesen – weiterhin fĂŒr wissenschaftlichen ZĂŒndstoff sorgen.

Andreas Schumann: Heimat denken: regionales Bewußtsein in der deutschsprachigen Literatur zwischen 1815 und 1914. Köln / Weimar e. a.: Böhlau 2002 (Zugl. MĂŒnchen Univ., Habil.-Schr., 1998), 39,90 Euro