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Befiehl dem Meer!

Ludwig Homann folgt in seinem neuen Roman vertrauten Spuren. Und doch ist ein ganz anderes Buch dabei heraus gekommen.

Die Literaturgeschichte ist reich an sonderbaren Charakteren. Jetzt ist ein weiterer hinzugekommen: Martina („Tini“) Mertens. Sie ist mit Arthur, einem biederen Handwerker, verheiratet. Gleich nebenan wohnt die Familie Meier, die gerade beim Baumarkt einen preisgünstigen Jägerzaun erstanden hat. Romantisch klingt das nicht gerade. Ist es auch nicht. Denn Martina lebt wie in einem Käfig, in ihrer eigenen, klaustrophobischen Welt. Zwischen ihr und der Realität steht eine imaginäre Wand.

Martina ist eigensinnig bis zur Weißglut. Wenn sie ihre „Touren“ bekommt, ist sie ungenießbar. Weil sie ihren Nachbarn wegen seiner anbiedernden Art nicht ausstehen kann, verlangt sie von ihrem Ehemann, dass er eine meterhohe Mauer zwischen die Grundstücke setzt. Ein anderes Mal ist ihr das Leitungswasser nicht sauber genug und sie besteht auf einem Hausbrunnen. Als sie ein Kind erwartet, beginnt sie - von hypertrophen Vorahnungen geplagt -, den gerade erst neu gestalteten Garten zu zerstören, um mögliche Gefahrenquellen für das Neugeborene zu eliminieren. Viele weitere Beispiele für ihre Extravaganz ließen sich anführen.

Ihr Mann übt sich in Gleichmut. Er hat längst kapituliert („Der Mensch muss erst noch geboren werden, der unserer Tini etwas auszureden imstande ist“). Um des lieben Friedens willen gibt er nach, erfüllt seiner Frau jeden noch so abstrusen Wunsch. Von einer „normalen“ Ehe kann eh nicht die Rede sein, denn für Martina war Arthur nie ein adäquater Partner. Sie fühlt sich zu Max hingezogen, dem Hausfreund. Erotik spielt dabei keine Rolle. Im Gegenteil: Martina hat in ihrer Elfenhaftigkeit etwas Unnahbares, selbst für den triebbestimmten Max. Die Faszination, die sie auf ihn ausübt, ist ihm selbst nicht ganz klar. Mit ihrem komplizierten Wesen, ihren Obsessionen, Launen und Phobien betrachtet er sie wie eine Sphinx, eine interessante Fallstudie.

Aufbrausendes Temperament

Bei einem Nachbarschaftstreff eskaliert die Situation. Martina fühlt sich von der pöbelartigen Art Meiers angewidert. Sie erleidet - wieder einmal - einen aggressiven Anfall, verkrampft, fügt sich Biss- und Kratzwunden zu. Solche Szenen häufen sich. Max bemüht sich um Ausgleich, um weiteren „Ausrastern“ zuvor zu kommen. Vergeblich.

Als Martina durch eigenes Verschulden ihr Kind während der Schwangerschaft verliert, gerät sie völlig aus dem Gleichgewicht und fühlt sich als Mörderin. Hysterisch und suizidgefährdet wird sie in eine Psychiatrie eingeliefert. Bei seinen dortigen Besuchen lernt Max das morbide Innenleben der Anstalt kennen. Martinas Tobsuchtsanfälle lassen nicht nach, sondern steigern sich noch. Als sie, um eine Ungerechtigkeit zu sühnen, mit einem Aschenbecher auf eine Insassin losgeht, wird sie in ein anderes Krankenhaus verlegt. Ein hoffnungsloser Fall, wie es scheint.

Doch es kommt anders. Die inzwischen 35-Jährige erleidet einen Unfall – und ist fortan von ihren exzentrischen Anfällen wie durch ein Wunder geheilt. Sie ist zwar an einen Rollstuhl gefesselt, doch hat dies ihren Wunsch, eine selbständige Existenz zu führen, eher forciert als verhindert. Von Arthur ist sie inzwischen geschieden und hat ihren ehemaligen Beruf als Arzthelferin wieder aufgenommen. Ihre Rätselhaftigkeit hat sie abgelegt und – trotz ihrer Behinderung – ihre weiblichen Reize entdeckt.

Max hingegen ist eine labile Existenz geblieben. Unzufrieden mit seinem Lehrerberuf, ist er seinem Glück halb verzweifelt, halb lethargisch nachgelaufen. Wechselnde Frauenbeziehungen und regelmäßige Bordellbesuche haben ihre Narben hinterlassen.

In einer Bibliothek kommt es, acht Jahre nach der letzten Begegnung, zu einem zufälligen Wiedersehen. Unter neuen Vorzeichen bahnt sich ein Happy-End zwischen Martina und Max an, die, wie die Ähnlichkeit ihrer Vornamen zeigt, eigentlich schon immer zusammengehört haben.

BezĂĽge zum Gesamtwerk

Ludwig Homann erzählt eine anrührende Geschichte. Sie lebt, wie die früheren Bücher des Autors, vom Psychogramm der Hauptperson. Dabei spielt das Thema „psychische Deformation“ eine besondere Rolle. Auch in Homanns Erzählung „Engelchen“ (1994), in der ein Stadtstreicher ein kleines Mädchen entführt, entwickelt sich ein psychologisches Planspiel. Ebenso in den Romanen „Der weiße Jude“ (1998) und „Der Hunne am Tor“ (2001), in denen sich die – identische – Hauptfigur nach einem Verrat von einem Dämon verfolgt glaubt. Die Erzählungen des Bandes „Klaus Ant“ (1996) handeln von persönlicher Selbstentfremdung, die den Titelhelden in immer neue grotesk-tragische Situationen schliddern lässt. Um gefährdete Existenzen geht es auch in dem Kriminalroman „Ada Pizonka“ (1995) - die Heldin streift ihre Opferrolle ab und wird zur Täterin.

Bemerkenswert an Homanns Büchern sei - so Joachim Feldmann in der Zeitschrift „Freitag“ - die Fähigkeit Homanns, die gestörte „Wirklichkeitswahrnehmung seiner Protagonisten plastisch und nachvollziehbar zu machen“ . Homann selbst hat auf die Frage, was ihn an dieser Thematik so fessele, geantwortet: „Wie gesagt, alles, was in der Welt ist, gehört dazu und muß verstanden werden. Von allem, was unverständlich ist oder scheint, geht die Aufforderung, man könnte sagen: der Auftrag aus, es zu verstehen, es nachvollziehbar zu machen. Das Abstoßendste, Ungeheuerlichste stellt insofern die größte Provokation dar.“

Wie in seinen früheren Büchern nähert sich Homann auch in „Befiehl dem Meer“ dem Thema nicht analytisch (oder gar aufklärerisch), sondern beschreibend. Auch in anderer Hinsicht tauchen Parallelen auf. Etwa bei der Beschreibung des Verhältnisses Mensch - Tier. Martina Mertens leidet geradezu existentiell darunter, dass sie als Kind den „Mord“ einer Katze an Mäusen zugelassen hat. Ihre Schuldkomplexe halten (wie die des „Verräters“ Fridtjof in „Der weiße Jude“) jahrzehntelang an.

Die distanzierte Erzählhaltung impliziert, dass die exzentrischen Anfälle Martinas nicht gegeißelt werden. Martinas Krankheit hat auch positive Seiten. Ihre grüblerische Haltung ist gepaart mit einem fast fanatischen Gerechtigkeitssinn. Bei der Beurteilung anderer Menschen ist sie geradezu hellsichtig.

Der Mensch als Maschine

Das autistische Leben, das sie führt, beruht - und das ist das Entscheidende - auf anderen Wahrnehmungsmaßstäben. Für sie ist ein Mensch eine Maschine: „Sie saß lange still, sagte dann: ‚Warum rege ich mich auf. Was sind wir schon? Folge einem Bissen, den du in den Mund steckst und kaust und schluckst, krieche mit ihm einmal lange durch dich hindurch. Dann weißt du es. Eine Kotfabrik sind wir. Warum auf sauberem Wasser bestehen? Schon im Mund beginnt die Verdauung, heißt es. Also auch die Fäkalisierung. Ist es da nicht egal, was wir hineinstecken? Egal, womit wir die Fabrik beschicken? All das Hohe und Schöne, was wir produzieren, an dem wir hängen, Kultur, Kunst, Gefühl, Liebe, ist es nicht Lügentheater, uns um die Wahrheit zu betrügen?’“



Oder, mit Bezug auf den Ich-Erzähler Max: „Wovon ich nichts wusste, war, dass sie in der Zeit ihres Schweigens und stillen Dasitzens einer hygienischen Katastrophe auf die Spur gekommen war. Sie habe, wieder angestoßen durch Arthur, einen Toilettenbesuch einmal systematisch durchdacht. Da sei ihr aufgegangen, dass da Kontamination und Asepsis ja völlig durcheinandergingen, eine exakte Trennung vielleicht überhaupt nicht möglich sei. Zum Beispiel: Man drehe den Wasserhahn am Becken mit verunreinigter Hand auf, wasche sich, drehe mit der sauberen Hand den nun verunreinigten Hahn wieder zu, rekontaminiere also seine Hand, und so, unrein, aber mit dem reinsten Gewissen, verlasse man das Badezimmer.“

An anderer Stelle berichtet Max: „Ich sagte, man dürfte seiner Phantasie nicht so nachgeben. ‚Im Gegenteil, man muss ihr die Zügel lassen’, sagte sie. ‚Die Phantasie läuft nur die Wege, die die Wirklichkeit nehmen wird. Die Wirklichkeit ist wie das Wasser, das überall hinläuft, wo es eine Möglichkeit gibt. Unsere Phantasie ist unsere Waffe.’“

Martina Mertens stellt sich die Frage: „Bin ich krank?“ Der Leser kann hierauf ebenso wenig eine Antwort geben wie auf die - von Anfang an virulente Frage -, ob Max sich nicht doch schon früh nach Martinas Liebe gesehnt hat. Homann beschreibt, er wertet nicht. Und scheut sich nicht, am Ende des Romans ein fast kitschiges Fazit zu ziehen. „Die Wege der Liebe sind wieder einmal wunderbar.“ Der Leser will es kaum glauben. Und der Autor? Vielleicht zwinkert er uns verschmitzt zu – ich bin nur der Chronist, was der Leser für Schlüsse zieht, ist die andere Seite der Medaille.



Fragen an den Autor:

Martina Mertens wundersame Heilung? Ist so etwas wirklich möglich? Haben Sie das recherchiert?

Ich hätte mich nie getraut, so etwas frei zu erfinden. Auf die Möglichkeit, dass Zwangsneurosen bei außergewöhnlichen Erfahrungen zusammenbrechen können, bin ich in einem der Bücher des Verhaltens-Therapeuten und ,Zwangsexperten' Dr. Nicolas Hoffmann gestoßen.


Wie wichtig sind Ihnen die Exkurse ĂĽber Fragen der Ethik im Verhalten von Mensch und Tier?
Tini nimmt es mit allem krankhaft genau: sagen wir. Sie sagt: Ihr seid krankhaft normal, Dickhäuter. Sie könnte fortfahren: Alles, was man tut, tut man immer auch sich selber an. Unser Umgang mit Tieren ist zugleich Umgang mit uns selbst. Reden wir nicht pathetisch von ,Ehrfurcht vor der Schöpfung'. Denken wir an uns selbst. Daran, daß wir bei all unseren Entscheidungen und Handlungen immer zugleich Subjekt und Objekt sind, immer selber mitbetroffen, uns mit allem heben oder herabsetzen, erhalten oder zerstören. – Tinis Genauigkeit krankhaft? Ein Fall für die Psychiatrie?

Sie erwähnen Joseph Conrads Roman „Herz der Finsternis“. Ist das für Sie ein Schlüsselroman?
Nein, das ist er nicht. Es geht an der Stelle um das Scheitern von Max als Pädagoge, um seine Verzweiflung an der Bildsamkeit des Menschen. Die Natur des Menschen erscheint ihm unüberwindbar düster und widerständig, kein Licht in sie hineinzutragen. Und da liest er „Herz der Finsternis“. Wie leicht die Wildnis, das Vorrational-Dunkle, westliche Zivilisation und Kultur unterlaufen kann, scheint mir besser als bei Conrad bei E.M. Forster in „Auf der Suche nach Indien“ dargestellt.

Gab auch für ihren neuen Roman ein äußerer Anlass, etwa wie bei „Engelchen“ eine Zeitungsnotiz, den Aufhänger für die Handlung ab?
Vor über 30 Jahren konnte ich einer überspannten jungen Frau dabei zusehen, wie sie sich mit Hausbau und Heirat ein neues Leben schaffen wollte. Ich empfand beklommen: Das kann nicht gutgehen. Ich skizzierte auf etwa 15 Seiten, wie es ausgehen könnte mit ihr, und hatte die Geschichte Martina Mertens, damals noch ohne das überraschende Ende, die Wiedergesundung.

Zum Titel: „Befiehl dem Meer“ weckt sicherlich andere Assoziationen. Das Meer kommt, wenn ich aufmerksam gelesen habe, nicht im Roman gar nicht vor...
Ich bin mit der Bibel eigentlich ganz gut vertraut. Daher ist es mir unbegreiflich, daß ich, als ich den Titel ,Befiehl dem Meer' erwog, nicht an entsprechende Bibelstellen dachte. Ich hatte immer nur das Element im Sinn, das sein muß, wie es ist. Wie ein so sich selbst ausgeliefertes Element verhält sich Tini.


Walter Gödden