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Groschenhefte mit pädagogischem Impetus.

Einige Kriminalnovellen des westfälischen Autors Jodokus Temme (1798-1881) sind neu erschienen

Es sprießt das Lokalkolorit. Ohne Wenn und Aber. Und doch, das muss gleich dazugesagt werden, ohne jeden Anflug, ohne jeden Verdacht von Provinzialität oder heimattümelnder Enge. Lokalkolorit und das gleich im Doppelpack. Einmal seitens des Autors, Jodokus Temme, der in Oelde-Lette geboren wurde und im Kloster Clarholz aufwuchs – sehr schön und anekdotenreich in seinen Memoiren nachzulesen, die seit einigen Jahren wieder auf dem Buchmarkt präsentsind. Zweitens aber auch durch den Schauplatz der Erzählung „Der letzte Burggraf von Stromberg“, die sograde auf dem Buchmarkt erschienen ist. Eine Historiengeschichte mit allem, was dazu gehört, Liebe und Intrige, jede Menge Action, Intrige und Komplott, hohe Politik und niedere Instinkte. Das klingt nach Sensationsliteratur á la Groschenheft und so ganz schief liegt man mit diesem Vergleich nicht.

Doch lassen wir uns nicht täuschen. Der Autor Jodocus Temme war ein Fuchs, ein – im positiven Sinne  – Hinterhälter. Er schmuggelte seine Botschaften durch die Hintertür in seine Geschichten ein. Ein alles andere als naiver Schreiberling also, ein hommes de lettre sogar, ein poeta doctus. Er war ein versierter Jurist und hoher politischer Beamter, der juristische Lehrbücher verfasste, ein kluger, besonnener, vor allem scharfsinniger Richter. Der womöglich manchen juristischen Lorbeer erworben hätte, wenn, ja wenn er nicht gleichzeitig ein aufrechter Demokrat gewesen wäre, der mit seinen preußischen Dienstherren über Kreuz lag, sich nicht scheute, diese zu provozieren, jemand, der sich die Butter nicht vom Brot nehmen ließ – ob dabei westfälische Sturheit im Spiel war, sei einmal dahingestellt.
Jedenfalls wich er keinen Deut von seinen politischen Überzeugungen ab –  mit der Folge, dass er bis ins hinterletzte Fleckchen des preußischen Staats zwangsversetzen, schließlich seiner Ämter enthoben und sogar ins Münsterer Gefängnis geworfen wurde. Doch die Staatsraison hatten die Rechnung ohne den Wirt gemacht: Temmes Inhaftierung wurde für ihn zu einem Triumphzug – er wurde freigesprochen und von den Bürgern wie ein Volksheld und mit einem Straßenumzug gefeiert.

Das Alles hat unmittelbar mit der erwähnten Erzählung zu tun.  Denn im Gefängnis begann Temme zweite Karriere, seine Belletristerei, die zu seinem zweiten beruflichen Standbein wurde. Er schrieb, es darf so offen gesagt werden, wahre Schmachtfetzen voller Grusel und Sensation. Und doch, siehe oben, nicht allein aus pekuniären Motiven. Die waren zwar auch im Spiel, denn er musste seine vielköpfige Familie mit seinem Schreiben ernähren, aber es überwog der pädagogische Impetus, es dominierten die schon erwähnten Hintergedanken.

Temmes ehrbares Anliegen war, seinen Lesern – oft einfache Leute – die Hintergründe, aber auch fadenscheinigen Abgründe des Justizwesens seiner Zeit durchschaubar zu machen. Altes Recht gegen neues Recht, Gewohnheitsrecht gegen preußisches Ordnungsrecht usw. Mitte des 19. Jahrhunderts war viel im Fluss, und was dem einen Recht erschien, war dem anderen durchaus nicht billig. Und wie immer versuchten Lobbyisten, aus solchen Zuständen Kapital zu schlagen und Vorteile zu ziehen.
Und eben das wollte Temme mit seinen hunderten von Erzählungen durchschaubar, transparent machen. Er wollte die Ungerechtigkeit anprangern, die sich oft hinter dem Deckmäntelchen neuer Gesetze breit machte. Analysierte, sezierte messerscharf die damaligen gesellschaftlichen Zustände, übte Kritik an Politik, Adel und Klerus. Und schon sind wir beim Stromberger Burggrafen und der oben erwähnten Erzählung. Sie liefert ein erbärmliches Bild vom mittelalterlichen deutschen Staat, vom Kaiser und seinen geistlichen Behörden und Bischöfen. Es geht um Macht, Einfluss, Geld, Hinter- und Arglist, blutrünstige Machenschaften, ein kunterbuntes Gesellschaftsbild in blutigste Farben getaucht.

An Temme kann man nicht zuletzt ablesen, wie gute Unterhaltungsliteratur funktioniert. Wie eine spannende Erzählung wie auf dem Reisbrett entworfen und bis ins Detail konstruiert wird. Nicht umsonst gilt der Autor als Mitbegründer der deutschen Detektivgeschichte. Ein westfälischer Conan Doyle – mit dem Unterschied freilich, dass jener in den Adelsstand erhoben wurde, während Temme weitgehend vergessen ist.

Der Band „Jodokus Temme: Wer war der Mörder. Kriminalgeschichten“ ist 2010 im Bielefelder Pendragon-Verlag erschienen.

Walter Gödden