Lesesaal > Rezensionen > Beitrag
Weitere Beiträge
  • Generation 39: Judith Kuckart: KaiserstraĂźe

    Rezensiert von Walter Gödden
    [27.12.2017]
  • Befiehl dem Meer!

    Ludwig Homann folgt in seinem neuen Roman vertrauten Spuren. Und doch ist ein ganz anderes Buch dabei heraus gekommen.
    [22.12.2017]
  • Thomas Kade: Körper FlĂĽchtigkeiten

    Rezension von Michael Starcke
    [02.12.2017]
  • Rezensiert von Kerstin DĂĽmpelmann
    [01.12.2017]
  • Die Arschlöcher waren drauĂźen

    Martin Willems ĂĽber den Bildband
    [26.11.2017]
  • Herznähe bringen

    Michael Starcke ĂĽber den neuen Gedichtband
    [07.11.2017]
  • Norbert Reimann (Hrsg.): Praktische Archivkunde

    Rezensiert von Max Plassmann
    [04.11.2017]
Backlist
Alle bisherigen Beiträge finden Sie in unserer Backlist.

Zu den Netz-Datenbanken von RLA und WLA

Inventar des Dortmunder Fritz-HĂĽser-Instituts

Rezensiert von Jochen Grywatsch

Das in Dortmund beheimatete „Fritz Hüser-Institut für deutsche und ausländische Arbeiterliteratur“ (FHI) widmet sich der Sammlung, Erforschung und Präsentation von Materialien, Zeugnissen und Quellen der Arbeiterkultur. Sammelschwerpunkte der europaweit einmaligen Institution, die im Kern aus einem großen Archiv mit zahlreichen Nachlässen und einer umfangreichen Spezialbibliothek besteht, sind die Literatur der industriellen Arbeitswelt, also Dichtung und Autobiographien von Arbeitern, für Arbeiter und über Arbeiter von 1848 bis heute, ebenso Literatur aus der Welt der Angestellten und Literatur von Arbeitslosen und Obdachlosen. Der Institutsgründer Fritz Hüser (1908-1979), mit Leib und Seele Bibliothekar, Archivar, Literaturliebhaber und -vermittler, hatte 1928 begonnen, systematisch Arbeiterliteratur (Erstausgaben, Briefe, Manuskripte) zu sammeln. Nach seiner aufgrund eines Unfalls notwendig gewordenen Umschulung vom Former in einer Werkzeugmaschinenfabrik zum Bibliothekar wurde er 1945 Leiter der Dortmunder Volksbüchereien, deren Bestand er von 12.000 auf 300.000 Bände ausbaute. Seine Autorenförderung führte unter anderem zur Gründung der „Dortmunder Gruppe 61“, die durch ihre neue Form der Industriedichtung (Bruno Gluchowski, Max von der Grün, Josef Reding, Günter Wallraf) bundesweit von sich reden machte. Außerdem begründete er eine Dokumentation zur proletarischen Kultur in Dortmund und im Ruhrgebiet.


Die Singularität des Instituts in Europa erstaunt zunächst deswegen, da dies zeigt, dass ein wesentlicher Teil der Kulturgeschichte der Mehrheit der Bevölkerung im Hinblick auf sammelnde Institutionen insgesamt stark unterrepräsentiert ist. Allerdings muss die literarische Nachlasspflege – sieht man einmal von den als kanonisch eingestuften Autoren ab – auf die Fläche gesehen als immer noch unterentwickelt bezeichnet werden. Sie führt häufig nicht mehr als eine Stiefkind-Existenz in den Gemeinde-, Kreis- und Kommunalarchiven, in denen dem Sammeln von literarischen Beständen und Nachlässen nur wenig Aufmerksamkeit zukommt.


Allerdings wird der Wert literarischer Nachlässe heute wesentlich höher eingeschätzt als noch vor ein, zwei Jahrzehnten. Auch die Etablierung der regionalen Literaturforschung seit den 1970er Jahren hat zu einer Umorientierung hinsichtlich des Wertekanons geführt. Nicht mehr allein eine ästhetisch anspruchsvolle „Höhenkamm-Literatur“ steht im Blickfeld der Forschung, auch die vermeintlichen poetae minores, das schreibende „Mittelfeld“ also, haben das Interesse auf sich gezogen. Die Hinwendung zu sozialgeschichtlichen und soziologischen Fragestellungen ging dabei einher mit einer stärkeren politischen Akzentuierung des Regionalen (Stichwort „Europa der Regionen“), und regionale Kulturpflege ist viel stärker als früher in das Bewusstsein der Öffentlichkeit und öffentlicher Stellen gerückt. Vor diesem Hintergrund ist auch die Gründung des Westfälischen Literaturarchivs beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe sowie der Schwester-Organisation des Rheinischen Literaturarchivs zu sehen, die sich als regional übergreifende Sammelstellen für Nachlässe insbesondere der Gegenwartsliteratur sowie als allgemeine Koordinations- und Informationsstelle definieren.


Was Dokumente der Arbeiter- und Angestelltenkultur betrifft, so kommt hinzu, dass diese von den staatlichen und kommunalen Sammel-Institutionen häufig als soziale Trivialliteratur und damit des Erhaltens unwürdig abgelehnt worden ist. So ist die Einmaligkeit der Dortmunder Sammlung eben zunächst einer privaten Sammelinitiative geschuldet, für die ab 1973, als Fritz Hüser in den Ruhestand trat, die Stadt Dortmund die Verantwortung übernahm. Gegen Schenkung des umfangreichen Archivs richtete die Stadt ein Forschungsinstitut mit voll besoldeten Kräften ein, womit sie die Arbeiterkultur als wichtigen genuinen Beitrag des Ruhrgebiets zur Kultur der Bundesrepublik hervorhob.

Nun hat das Fritz-Hüser-Institut durch seinen letzten hauptamtlichen Leiter Rainer Noltenius sowie die Archivarin und jetzige Leiterin Hanneliese Palm und den Bibliothekar Gregor Vogt ein gedrucktes Inventar zu den Archiv- und Bibliotheksbeständen vorgelegt, womit erstmals ein Gesamtüberblick mit Detailinformationen möglich wird.


Der erste Teil des Inventars verzeichnet – alphabetisch geordnet – sowohl personen- als auch institutionsbezogene Bestände. Neben 44 Autorennachlässen des 19. und 20. Jahrhunderts zählen dazu sechs vollständige Archive von Arbeiter-Schriftsteller-Vereinigungen, so der „Dortmunder Gruppe 61“ (1961-1973) und dem „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“ (seit 1970), und von Chorvereinigungen. In der übersichtlichen und detailreichen Darstellung kann sich der Nutzer schnell einen Überblick verschaffen über die vorhandenen Manuskripte, Korrespondenzen und Dokumente, wobei ausführliche bio-bibliografische Angaben zu den jeweiligen Autoren willkommene Nebeninformationen bilden. Ergänzend zu diesen Angaben erschließt das Inventar auch verschiedene wertvolle Sammlungsbereiche des Instituts, darunter unterschiedliche Medien audio-visueller Art, Fotografie und Bildmaterial in Form von Grafiken, Plakaten, Postkarten und Buchumschlägen.

Der zweite Teil des Inventars listet – nach ihrer schlüssigen und überzeugenden Systematik – die Bibliotheksbestände des Dortmunder Instituts auf. Im Jahr 2003 (Redaktionsschluss des vorliegenden Bandes) umfasste die Präsenzbibliothek ca. 26.700 Buchbände sowie insgesamt 1.350 Zeitschriftentitel aus einem Zeitraum von 1800 bis heute. Ob man nach allgemeinen und übergreifenden Informationen zur Kultur der Arbeitswelt sucht oder den Fokus auf spezielle Teilbereiche richten will, in der reichhaltigen und vielfältigen Sammlung des Hüser-Instituts, die nun in einer übersichtlichen Form zugänglich ist, wird man sicher fündig.


Das vorgelegte Inventar erschließt ein Spezialsammelgebiet, der insbesondere aufgrund des einschneidenden Strukturwandels in der Arbeitswelt, wie er sich im Ruhrgebiet nur allzu deutlich macht, starken Veränderungen unterworfen ist. So ist die Literatur von abhängig Arbeitenden heute eher zu einer Literatur der Angestellten geworden, die inzwischen den Großteil der arbeitenden Bevölkerung bilden. Auch im Hinblick auf den Prozess der Stärkung des Regionalen vor dem Hintergrund allgemeiner Globalisierungstendenzen ergeben sich manche Änderungen für die Arbeit des Fritz-Hüser-Instituts, das zunehmend den Blick schärft auf die Literaturgeschichte des Ruhrgebiets. Hier definiert das Institut inzwischen eins seiner Haupt-Sammel- und Forschungsgebiete. Das vorliegende Inventar lädt ein zur Auswertung der reichen Bestände des Dortmunder Fritz-Hüser-Instituts; mit ihm sind die Grundlagen für die weitere Erforschung der Literatur und Kultur der Arbeitswelt wesentlich verbessert.


Literatur und Kultur der Arbeitswelt: Inventar zu Archiv und Bibliothek des Fritz-HĂĽser-Instituts. Herausgegeben von Rainer Noltenius. Bearbeitet von Hanneliese Palm und Gregor Vogt. MĂĽnchen: K G Saur 2005. 420 S., geb., 98,00 EUR.


Jochen Grywatsch