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Max von der Grün: Als das Revier noch rührt

Ein Porträt von Wolfgang Delseit

„Nichts als gegeben hinnehmen!", war die Antwort von Max von der Grün auf eine „FAZ"-Frage nach seinem Motto. Zu seinen Lieblingslyrikern erkor er Heinrich Heine und Bert Brecht; Gorki und Balzac waren seine bevorzugten Schriftsteller, Ungeduld eine seiner „schlimmsten Eigenschaften".

Als „Revier-Goethe" bezeichnete ihn einmal ,Der Spiegel". Wolfgang Petersen verfilmte in jungen Jahren seinen Roman „Stellenweise Glatteis" mit Günther Lamprecht in der Hauptrolle; Horst Frank spielte den Lothar Steingruber in der Verfilmung von „Flächenbrand" - mit elf Fernsehspielen nach von-der-Grün-Texten zählen seine Werke zu am häufigsten verfilmten deutschen Literatur-vorlagen. Populär ja, aber innerhalb der Literaturkritik und -wissenschaft ist er nie so richtig rezipiert und akzeptiert worden: Max von der Grün, postulierter Arbeiterschriftsteller, der selbst mit diesem Begriff nichts anfangen konnte - „Ich sehe immer nur Menschen", schrieb er an den Literaturhistoriker Franz Schonauer, und wenn die Menschen, die er beschreibe, nun einmal zufällig Arbeiter seien, so läge dies daran, dass er u. a. am meisten mit Arbeitern gelebt habe. Und „Menschen muss man gefühlt haben, wenn man über sie schreiben will", so der Literaturwissenschaftler Stephan Reinhard, der 1978 mit sei-nem „Materialienbuch" (Luchterhand Verlag) über von der Grün die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Autor auslöste.

„Jeder Mensch ist durch seine Biographie geprägt."
Ein Verfasser kurzweiliger Bücher, Chroniken seiner Welt im Ruhrgebiet, ohne allzu hohen literarischen Anspruch, in denen dem kleinen Mann gründlich aufs Maul geschaut wurde - Vergleiche mit Hans Falladas Romanen drängen sich förmlich auf. Er war ein unbequemer Schriftsteller, ein politischer dazu, dem sein gesellschaftspolitisches Engagement den Ruch des Netzbeschmutzers, des Schwarzmalers, mit einer „Sucht nach sozialer Kritik" (Vintila Ivanceanu) einbrachte, der Heuchelei und Bigotterie verabscheute. Unangepasst blieb er Zeit seines Lebens ein Einzelgänger, der oft genug unverblümt seine Meinung kundtat.


Max von der Grün wurde am 25. Mai 1926 als Sohn eines Schuhmachers in Bayreuth geboren, wuchs in Schönwald (Oberpfalz) auf, wo er ab 1933 erst die Volks-, dann die Haupt- und schließlich bis 1941 die Handelsschule besuchte. Nachdem die Wehrmacht 1938 ins Sudetenland einmarschiert war, wurde der Vater als Zeuge Jehovas verhaftet und von 1939 bis 1945 ins Konzentrationslager Flossenburg verschleppt; Max wuchs bei der Mutter seines Vaters auf. 1941 begann er eine Lehre als Kaufmännischer Gehilfe in den Rosen-thal-Porzellanfabriken in Selb und Marktredwitz, die er 1943 erfolgreich beendete, bevor er - noch keine 18 Jahre alt - im selben Jahr zur Wehrmacht einberufen wurde. Während des Kriegseinsatzes in der Bretagne geriet Max von der Grün 1944 in amerikanische Gefangenschaft und arbeitete bis 1948 als „Prisoner of War" auf Baumwollfeldern in Louisiana und in texanischen Stein-brüchen. Im April 1948 wurde er aus der Kriegsgefangenschaft entlassen: „Drei Jahre Kriegsgefangenschaft waren meine Universität", so lautete sein Kommentar über diese Zeit.


In Deutschland versuchte er sich zuerst wieder in seinem gelernten Beruf in Marktredwitz zu etablieren, arbeitete aber auch als Hilfsarbeiter im Baugewerbe, bevor er 1951 ins Ruhrgebiet zog, um als Schlepper auf der Zeche „Königsborn" in Heeren-Werve sein Auskommen zu finden. 1955, er war zwischenzeitlich zweimal verschüttet worden, erlitt Max von der Grün einen schweren Arbeitsunfall. Während des dreimonatigen Krankenhausaufenthalts kam er, der bis dahin nur gelesen hatte (sieht man von Fingerü-bungen wie Tagebuch schreiben einmal ab), zum Schreiben. In den nächsten Jahren arbeitete er nachts „auf Zeche und tagsüber an seiner Schreibmaschine, verfasste Kurzgeschichten und erste, unfertige Gedichte.
Seit 1957 entstand der Debut-Roman, und 1959 begann die Bekanntschaft mit dem Direktor der Dortmunder Bibliotheken, Fritz Hüser, der erster Mentor wurde. Hüser brachte ihn in Kontakt zum katholischen Paulus-Verlag, in dem 1962 von der Grüns erster Roman „Männer in zweifacher Nacht" erscheinen sollte.


Max von der Grün, der autodidaktisch gebildete, hielt nun auch an der Volkshoch-schule im Kreis Unna Vorträge über Literatur. Im Nachklang des Erfolges der von Fritz Hüser und dem Bil-dungssekretär der IG Bergbau und Energie, Walter Köpping herausgegebenen Anthologie „Wir tragen ein Licht durch die Nacht. Gedichte aus der Welt des Bergmanns" gründeten die Beteiligten, darunter Josef Reding, die „Dortmunder Gruppe 61 für künstlerische Auseinandersetzung mit der industriellen Arbeitswelt" - kurz „Gruppe 61". Man traf sich zu regelmäßigen Gruppensitzungen, diskutierte, las sich gegenseitig vor oder debattierte tages-politische Themen rund ums Ruhrgebiet. Arbeiten der Mitglieder wurden in einem von Hüser herausgegebenen „Almanach der Gruppe 61" veröffentlicht. Von der Grün referierte auf der ersten Tagung über „Mensch und Industrie in der Literatur der Gegenwart" und legte sich dabei auf seine literarischen Themen fest. Er wurde rasch der prominenteste Vertreter der Gruppe.


Bereits seit 1962 schrieb er an seinem zweiten Buch, das 1963 unter dem Titel „Irrlicht und Feuer" erschien und Max von der Grüns erster großer Erfolg wurde, auch weil es einen ausgemachten Skandal nach sich zog. Ein Vorabdruck führte zum Zerwürfnis mit den Gewerkschaften und dem Beginn einer Kampagne gegen den Autor: In den kommenden vier Jahren sollte von der Grün weder zu Tagungen noch zu Lesungen eingeladen werden; auch Veröffentlichungen in den Gewerkschaftszeitungen wurden unmöglich. Als ein Prozess, den die Firma „Westfalia Lünen" führte, die sich durch den Roman geschädigt fühlte, auch im Berufungsgericht zu Gunsten von der Grüns endete, wurde ihm im Dezember 1963 fristlos gekündigt. 1964 folgte dann der Rauswurf aus der Gewerkschaft, in der er den Ruf des Nestbeschmutzers und Nörglers hatte, wegen „säumiger Beitragszahlungen".
Nach dem Erfolg des Romans und der Tatsache, dass er deshalb keine Neuanstellung fand, lebte von der Grün
fortan als freier Schriftsteller, begab sich auf Lesereisen, die ihn von 1964 bis 1974 auch in die ehemalige DDR, nach Ungarn, in die CSSR, nach Holland, in die UdSSR, nach Griechenland, Ägypten, Groß-britannien, im Auftrag des Goethe-Instituts nach Norwegen, Island, in die Türkei, den Iran, nach Pakistan und Israel - letztendlich rund um die Welt führten. Zudem engagierte er sich gesellschaftspolitisch: Einerseits immer wie-der in seinen Texten, andererseits auch handfest politisch, als er 1965 mit Günter Grass auf Wahlkampfreise für die SPD ging (Dieser Partei gehörte er seit 1951 an, trat aber mit Beginn der Großen Koalition von 1967 unter Kurt Georg Kiesinger enttäuscht aus.) oder als Vorsit-zender des „Republikanischen Clubs Dortmund" (1968). Max von der Grün meldete sich zu Wort, nahm an den Ostermärschen teil, machte sich zum Wortführer der stummen Arbeiterschaft, die von Arbeitgebern und Ge-werkschaften geführt wurden, und legte mit seinen Büchern die Finger in die Wunden der bundesrepublikanischen Gesellschaft.

„Ich will eine Geschichte erzählen."


Für alle Romane, die Max von der Grün bis 1990 veröffentlichte, gilt, dass sie sich durch ihren realistischen Sprachstil auszeichnen und sich in einer realen, vom Autor erlebten Welt abspielen, die mit fiktiven Elementen durchsetzt sind. Es ist die Welt des Bergmanns an der Ruhr mit all ihren positiven wie negativen Gesichtern. Es ist keine Arbeiterliteratur im Sinne der klassischen „Arbei-terdichtung` der 1920er Jahre, sondern eine Literatur der Arbeitswelt.

Von der Grüns erster Roman „Männer in zweifacher Nacht" handelt vom Leben und der Arbeit der Menschen im Bergbau, die in Nachtschichten Kohle abbauen, und drei Männern, die bei einem Grubenunglück untertage eingeschlossen werden. Hier war das Milieu gefunden, dem der Autor literarisch treu blieb, und auch jene Haltung, aus der heraus die Welt, die er beschreiben wollte, entstehen konnte: Angestellte sind keine Arbeiter.
Der zweite Roman „Irrlicht und Feuer" schildert - oft nicht frei von überzogenem Pathos - einige Abschnitte aus dem Leben des Hauers Jürgen Fohrmann, der auf der Zeche seinen Job verliert und sich in verschiedenen Berufen versucht, bevor er in einem automatisierten Elektrobetrieb als „Weißkittel" eine Anstellung findet. Kernthema ist die wachsende Entfremdung des Arbeiters mit seinem Arbeitsplatz. Daneben werden in dem Buch die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit der frühen Bundesrepublik, eine geballte Konsumkritik, die Gastarbeiter- und die DDR-Flüchtlingsproblematik thematisiert. „Eingekeilt zwischen Forderungen terminbesessener Vorgesetzter, Gewerkschaftssorgen, Ratenzahlungen und einer glücklosen Ehe steht Fohrmann stellvertretend für eine übergroße Mehrheit der Lohnempfänger im Mahl-strom unserer Industriege-sellschaft", heißt es im Klappentext zur Rowohlt-Ausgabe 1967. Bis 1974 erreichte der Roman eine Auflage von 2,5 Millionen Exemplaren und wurde 1966 (von der DDR-Defa) erfolgreich verfilmt. Bereits 1965 erschien eine Lizenzausgabe für die DDR, was von der Grün wiederum den Vorwurf einbrachte, ein Kommunist und DDR-Infor-mant zu sein.
Sein dritter - eher schwacher - Roman „Zwei Briefe an Pospischiel" greift die NS-Vergangenheit und die Ausbeutung von Arbeitern auf und wurde dann als erstes seiner Bücher von der überregionalen Kritik wahrgenommen. „Stellenweise Glatteis" (1973), in dem von der Grün die gewerkschaftseigene Bank für Gemeinwirtschaft in Zusammenhang mit einem Dortmunder Unternehmen bringt, das seine Mitarbeiter abhören läßt, löst wieder Schlagzeilen, Verleumdungen und Diffamie-rungen aus, da er als Doku-mentation gewertet wird. Der Roman trifft wie der folgende 1979 erschienene „Flächenbrand" den Nerv seiner Zeit. Gesellschaftskritische Romane liegen im Trend. Das Komplott der alten und neuen Nazis, das Lothar Steingruber aufdeckt, bildet den inhaltlichen Spannungsbogen des einen Handlungsstranges, der auch Schwerpunkt in der Verfilmung von 1981 wird.
Dann war diese Zeit vorbei. Weder „Die Lawine" (1986), in der es um das Testament ei-nes Unternehmers geht, das - nach seinem Selbstmord - die Arbeitnehmer seines Betriebes zu Teilhabern erklärt, noch Max von der Grüns letz-ter Roman »Die Springflut« (1990), der sich den Themen Arbeitslosigkeit und Ausländerhass widmete, finden großen Anklang beim Lesepublikum oder der Literaturkritik, sicherlich auch deshalb, weil die Zeit, als man Literatur noch als zulässiges Mittel politischer Aufklärung verstand, vorbei war.
Von seinen zahlreichen anderen Büchern mit Erzählungen, Essays und Bekenntnissen, seinem Jugendbuch „Vorstadtkrokodile", das erfolgreich verfilmt wurde, oder den von ihm herausgegebenen Anthologien soll hier stellver-tretend das 1979 im Gefolge der amerikanischen Serie „Holocaust" erschienene Aufklärungsbuch „Wie war das eigentlich? Kindheit und Jugend im Dritten Reich" (zum 13. Mal neu aufgelegt 2000, dtv) erwähnt werden; eine Mischung aus Sachbuch, Dokumentation und Autobiographie, die Verdrängung und Verschweigen der historischen Wahrheit innerhalb des bundesdeutschen Bewusstseins aufdeckt.
Trotz aller Anfeindungen wurde von der Grün mit Preisen ausgezeichnet. Das Goldene Lorbeerblatt des Deutschen Fernsehfunks (DDR) erhielt er für „Irrlicht und Feuer", es folgten u. a. der Große Kulturpreis der Stadt Nürnberg, der Preis der Prager Fernsehzuschauer für „Vorstadtkrokodile", Reinoldus-Plakette und -Ehrenring der Stadt Dortmund, Gerrit-Engelke-Preis, Literaturpreis Ruhrgebiet und Kogge-Preis. Die größte Anerkennung war wohl die Verleihung des An-nette-von-Droste-Hülshoff-Preises.


Am 7. April 2005 starb Max von der Grün im Alter von 78 Jahren in Dortmund-Lastrop. Er war ein wenig wie Fohrmann, Pospischiel, Karl Maiwald oder Steingruber: Von der Grüns Protagonisten sind allesamt Moralisten und ir-gendwo auch Einzelgänger mit geschädigtem Selbstwertgefühl, die auf der Suche nach der Solidarität durch die „Kumpels" und natürlich der Gewerkschaften sind; und sie alle sind Gescheiterte, denn Solidarität finden sie auf Grund der Interessengemenge niemals. Letztendlich scheiterte auch Max von der Grün, um den es in den letzten beiden Jahrzehnten nach Mauerfall und Auflösung des „Arbeiter- und Bauernstaates" still geworden war. „Die Arbeiterliteratur ist tot" (Rüdiger Scholz). Ihr letzter großer literarischer Vertreter auch.