Lesesaal > Rezensionen > Beitrag
Weitere Beiträge
  • Inventar des Dortmunder Fritz-HĂĽser-Instituts

    Rezensiert von Jochen Grywatsch
    [22.12.2017]
  • Befiehl dem Meer!

    Ludwig Homann folgt in seinem neuen Roman vertrauten Spuren. Und doch ist ein ganz anderes Buch dabei heraus gekommen.
    [22.12.2017]
  • Thomas Kade: Körper FlĂĽchtigkeiten

    Rezension von Michael Starcke
    [02.12.2017]
  • Rezensiert von Kerstin DĂĽmpelmann
    [01.12.2017]
  • Die Arschlöcher waren drauĂźen

    Martin Willems ĂĽber den Bildband
    [26.11.2017]
  • Herznähe bringen

    Michael Starcke ĂĽber den neuen Gedichtband
    [07.11.2017]
  • Norbert Reimann (Hrsg.): Praktische Archivkunde

    Rezensiert von Max Plassmann
    [04.11.2017]
Backlist
Alle bisherigen Beiträge finden Sie in unserer Backlist.

Zu den Netz-Datenbanken von RLA und WLA

Generation 39: Judith Kuckart: KaiserstraĂźe

Rezensiert von Walter Gödden

Am 27. Juni 2006 wurde Judith Kuckart mit dem Literaturpreis der Universität Paderborn ausgezeichnet. Unlängst legte die 1959 in Schwelm geborene Autorin mit dem Roman „Kaiserstraße“ ihr sechstes Buch vor, das zu den wichtigsten Neuerscheinungen des Jahres 2006 gezählt wurde.

„Kaiserstraße“ ist ein magisches Wort. So wie es viele magische Wörter gibt. Sinalco beispielsweise oder Bonanza. Oder auch Nitribitt, Rosemarie Nitribitt. Es ist der Name des berühmtesten Callgirls der Adenauerzeit. 1957 wurde es in Frankfurt ermordet. Die Tat wurde nie aufgeklärt und gab Anlass zu Spekulationen. Hochrangige Politiker sollen in den Fall verwickelt gewesen sein, es roch nach einem Vertuschungsskandal.

Das Ereignis füllte endlos viele Spalten der Boulevardpresse. Zwei Mal wurde es verfilmt: 1959 mit Nadja Tiller in einem der umstrittensten und populärsten Filme der fünfziger Jahre („Das Mädchen Rosemarie“). Nicht minder erfolgreich war Bernd Eichingers Remake 1995 mit Nina Hoss, Heiner Lauterbach und Mathieu Carrière in den Hauptrollen.

Judith Kuckart hat in ihrem neuen Buch „Kaiserstraße“ das Schicksal der Nitribitt aus ganz anderer Perspektive aufgerollt. Nicht die Täterfrage steht im Vordergrund, sondern die Assoziationskraft, die vom Mythos Nitribitt ausgeht. Magische Wörter können wie Sterne vom Himmel fallen. Sie können Unheil stiften und Personen, ganze Familien zerstören. Nitribitt ist, wie wir erfahren, so ein schicksalhaftes Wort.

... seine Seele verkaufen

Damit sind wir bei Leo Böwe, Jahrgang 1935. Wir lernen ihn etwa 20-jährig kennen und verfolgen ihn fast fünf Jahrzehnte durch den Roman. Obwohl ein guter Schüler, hat er das Abitur sausen lassen. Er wird in seiner Heimatstadt Wuppertal Vertreter für Waschmaschinen. Kein schlechtes Los, wie sich herausstellt, denn Böwe macht Karriere. Wobei ihm sein gutes und stets korrektes Äußeres hilft. Ein Allerweltstyp also, dem man nichts Übles zutraut. Alles scheint seinen geregelten Lauf zu nehmen und wendet sich doch, Schritt für Schritt, zum Unglück.

Was Böwe von anderen Verkäufern seiner Branche unterscheidet, ist sein Hang zum Träumen. Über den jungen Böwe heißt es: „Hinter den Augen wartete eine erste Melancholie darauf, richtig Melancholie zu werden“. Später leidet er an einem „lächerlichen Abendweh“, wie seine Frau spottet. Er ist ein verklemmter Typ. Sexualität spielt sich, wenn überhaupt, in seiner Phantasie ab. Er bleibt bis zur Ehe Jungfrau und hat es auch dann noch nicht eilig. Fünf Jahre war er da schon mit Liz zusammen. Sie passt anfangs maßgenau zum „kleinen Böwe“, wie er jahrzehntelang gehänselt wird. „Sie trug nie Bikini, sie ging nie ins Schwimmbad, sie konnte nicht schwimmen. Ihre Mutter fand Schwimmen unmoralisch. Liz war sehr hübsch, wenn auch auf eine provinzielle Art.“ Liz ist, anders als Leo, nicht gefährdet. Doch auch sie scheitert. Eingesperrt in eine enge, spießige Gefühlswelt, wird sie zusehends von Lethargie zermürbt.
Böwes Vertreterkollegen sind Großtuer, Sprücheklopfer und Aufreißer. Böwe hält sich anfangs von ihnen fern, lässt sich aber von ihrem Macho-Gehabe anstecken. Der Reiz des Verbotenen übt einen geheimen Sog auf ihn aus. Auch Böwe ist bald „verdorben“. Eine Folge seiner vielen „Frauengeschichten“. Er ist immer häufiger unterwegs und beginnt ein Doppelleben.

In Baden-Baden besucht er gemeinsam mit seinen Freunden einschlägige Etablissements. Er hat bald eine, bald zwei, bald überall im Land eine Geliebte. Wir erfahren es fast beiläufig. So wie sich das Geschehen fast geräuschlos abspult. Böwe ist so indifferent wie sein Name, der „Löwe“ ebenso assoziiert wie „Böse“ oder eine „Möwe“, die davonfliegt, wenn sich Probleme auftun.

...fünf Herzschläge zu lang...

Mit 25 wird Böwe erstmals Vater. Seine Tochter wird im Juli geboren und heißt Jule. Man wohnt inzwischen in der Kaiserstraße, nicht der großen in Frankfurt, in der Rosemarie Nitribitt ermordet wurde, sondern der kleinen in Wuppertal-Barmen. Es hat sich einiges verändert. Böwe ist in der Firma aufgestiegen und verdient nun das Dreifache. Als man ihn anspricht, ob er einen Listenplatz der CDU annimmt, willigt er ein. Wie immer, sagt er nicht nein, aber auch nie entschieden ja. Auch in der Partei kommt er voran. Mit 44 ist er Fraktionsvorsitzender – und setzt immer mehr Speck auf den Rippen an.
Die Parteilaufbahn eröffnet Böwe neue Fluchtmöglichkeiten. Er ist fast nur noch unterwegs. Während seine Frau zuhause schmollt. Es wächst die Entfremdung: „Einen Augenblick starrten sie einander an, jeder von seiner Seite des Lebens aus, und es dauerte, bis sie weitersprechen konnten. Es war einer dieser seltsamen, zerdehnten Augenblicke, vier, fünf Herzschläge zu lang und schon dem Ende der Liebe ähnlich.“

Man lebt sich auseinander. „Warum fährst du noch immer so oft nach Baden-Baden? fragte Liz, als Jule fünf wurde. Sie bekam nicht zum ersten Mal keine Antwort. Immer war es etwas anderes, warum Böwe nicht sprach.“ Seine Frau richtet sich schon frühzeitig aufs Alter ein: „Liz strickte genau so ein dunkelblaues Kleid für sich und Jule. Nur der Saum wurde länger. War Böwe verheiratet mit einer Strickliesel? Und was war er? Ein Knäuel unerfüllter Wünsche, das langsam hart wurde?“

Liz unterwirft sich. Nur einmal traut sie sich etwas zu tun, ohne ihren Mann zu fragen, und wird Mitarbeiterin einer Boutique. Als sie ein anderes Mal aus ihrer „Heimchen“-Rolle ausbricht, hat das gleich Konsequenzen. „Als Liz dreißig wird, entdeckt sie im gnadenlosen Licht einer Unkleidekabine ein paar graue Haare. Zum ersten Mal in ihrem Leben kauft sie ein rotes Kleid. „Siehst du, sagte Leo an dem Abend und lachte... Ende Oktober wurde sie wieder schwanger, und das rote Kleid war nicht ganz unschuldig daran.“

Der Fluchtkünstler Böwe vereinsamt unterdessen immer mehr. Vor dem Landtagsgebäude freundet er sich mit einem Penner an:
„Im Spiegel hinter der Verkaufstheke las er, wie uneins er mit sich war. Allein sein zu wollen und zugleich in den Klauen einer unbestimmten Angst zu stecken, den Alltag ohne einen Menschen, den er gerade zu lieben meinte, schaffen zu müssen, das ging einfach nicht. Der Penner neben ihm schaute ebenfalls in den Spiegel.
Schicker Schlips, Alter, sagte er, trinken wir noch einen?
Böwe nickte.
Geh doch in Therapie, sagte der Penner, wenn du immer traurig bist.
Böwe schüttelte den Kopf.“
Da ist es schon zu spät. Aus dem „kleinen Böwe“ ist ein gemütlicher Böwe geworden. Der 64-Jährige gesteht sich ein, dass seine Welt „katholisch“ geworden sei. „Er war tatsächlich ein Auslaufmodell, das sagte ihm auch der Gesichtsausdruck des Parteivorsitzenden, als Böwe aufschaute... Gehen Sie mal zu Therapeuten.“ Als „streunender Fuchhahn“ (O-Ton) durchstreift Böwe auch weiterhin die Republik, nunmehr ohne Sinn und Ziel.

Böwes Trauma

Während all dieser Zeit trägt Böwe ein Geheimnis mit sich herum, das sich wie ein Virus in sein Denken eingeschlichen hat. Es trägt den Namen Rosemarie Nitribitt. Der Nachhall dieses Namens lässt Böwe über fünfzig Jahre lang nicht los.

Böwe wähnt sich dem Tod der Nitribitt schicksalhaft verbunden. Als sie ermordet wurde, hielt er sich zufällig in der Frankfurter Kaiserstraße auf. Sehr wahrscheinlich wurde er sogar von ihrem Mörder angesprochen. Böwe fühlt sich fortan mitschuldig. Jahrzehnte später will er bei der Polizei ein – völlig nutzloses – Geständnis ablegen, um sein Gewissen zu entlasten.

Als er erfährt, dass einer seiner Vertreter-Kollegen Kunde der Nitribitt war, schreckt Böwe aus seiner trübsinnigen Gleichgültigkeit auf. „Wir sind in mein Hotel gegangen, sagte Nobis leise, und sie ist, wie vereinbart, blond, schlank und sachlich gewesen. Sie hatte genug Verstand, um nicht zu viel zu reden. Sie hörte zu. Das reichte, denn sie war sehr schön gewachsen, aus zahlreichen kleinen und großen Halbkugeln zusammengesetzt... Sie hat keine Phantasien gehabt, sagte Nobis, aber vielleicht gerade deswegen welche geweckt.“
Böwe verfolgt solche Spuren detektivisch weiter. Im Bahnhofskino sieht er sich „Das Mädchen Rosemarie“ an, die Verfilmung von 1959. Was ihn antreibt, ist – obwohl es nirgends explizit genannt wird – ein indifferenter Reiz des Verbotenen, Amoralischen.

Als Böwe ein neues außereheliches Verhältnis eingeht, denkt er auch dabei an Rosemarie Nitribitt. „Dieses Mal hatte der Name gereicht, um das Verlangen zu wecken. Rosemarie. Mit dem Geräusch, das der Name Rosemarie machte, waren andere Frauen zurückgekommen.“ Doch die Geliebte ist nur halbwegs ein Ersatz. Von Rosemarie Nitribitt unterscheidet sie sich in Böwes Augen „wie der Finke vom Falken“.

Böwe treibt es so weit, dass er einen Einbruch in seine eigene Wohnung fingiert, um bei der Freundin die gleiche Wohnsituation zu schaffen wie bei sich zu Hause. Das Erzähler-Ich fragt rhetorisch: „Warum diese Affäre, die eigentlich eine zweite Ehe war? Nur, um einem Leben zu entkommen, das ihm zu kurz zu sein schien, wenn er es nicht doppelt, also als ein Doppelleben führte? Lebte er dadurch wirklich doppelt?“

Die nächste Generation: Ratio statt Liebe

Das Interesse des Lesers hat sich längst von Böwe abgewandt, der immer mehr zu einer Karikatur seiner selbst geworden ist. Die Perspektive wechselt zu seiner Tochter Jule über. Sie hat das hübsche Gesicht ihrer Mutter und Böwes Mimik geerbt: „Ihr Lächeln war wie seines, ein schiefer Selbstschutz.“
Vater und Tochter haben es nicht leicht miteinander. Böwe bezeichnet Jule später als „Unglück seiner besten Jahre“. Jule ist aufsässig. Mit 14 beginnt sie zu rauchen und verdreht den Männern den Kopf. Mit 16 Jahren wird sie schwanger von einem Freund des Vaters, der das Frühgeborene sofort zur Adoption freigibt.

Jule ist stärker als ihr Vater. Und ehrlicher. Er weiß es und schlägt sie. Doch sie gibt nicht klein bei. Auf dem Schulweg sieht sie ihren Vater an jedem Baum hängen. Als sie im Fernsehen den erschossenen Benno Ohnesorg sieht, beschließt sie: „Papi, wenn ich groß bin, erschieße ich dich auch.“ Der Satz geht Böwe nicht mehr aus dem Kopf. Als er, Jahrzehnte später, in einer Fußgängerzone einen Kreislaufzusammenbruch erleidet, durchdringen die Worte seinen Kopf wie einen Pistolenschuss: „Papi, wenn ich groß bin, erschieß ich dich auch!“

Jule macht ein fabelhaftes Abitur und geht zum Ballett, bis ein Kreuzbandriss ihre erfolgreiche Laufbahn beendet. Später wechselt sie ins Management einer Weltfirma und schließlich in eine Theaterdirektion. „Ja, sie funktionierte überall, egal, wo man sie hinstellte, mit der altmodischen Disziplin und Hingabe einer ehemaligen Tänzerin, die immer tat, was man ihr sagte, und dazu lächelte.“
Jule mag Männer und diese mögen sie. Als sie etwa 40-jährig rekapituliert, kommt sie auf 14 feste Beziehungen, zumindest zwei weitere folgen, bis der Roman aufhört, ihre Spur zu verfolgen. Sie fühlt sich zu älteren Männern hingezogen, geht aber eine Liason zu einem etwa 20-Jähringen ein, von dem sie schwanger wird. Aber auch das scheint sich nicht zum Malheur auszuwachsen. Jule besitzt das Talent, immer wieder auf die Füße zu fallen, wobei ihr eine große Portion Zielstrebigkeit hilft. Was ihr indes fehlt, ist die Fähigkeit zu lieben. Dafür ist sie aufrichtiger als ihre Eltern, die sich ihr Scheitern nicht eingestehen. Ihrem Vater geht sie aus dem Weg. Bei einer zufälligen Begegnung in einer Bahnhofshalle gibt sie sich nicht zu erkennen. Es kommt zu einem belanglosen Gespräch, bevor beide unverbindlich auseinandergehen.

Die Lebensläufe von Vater und Tochter driften immer weiter auseinander. Es kommt zu der Peinlichkeit, dass er sie am Telefon versehentlich siezt. Als sie ihm die Geburt ihrer Tochter mitteilt, befindet er sich auf einer Pilgerfahrt nach Santiago di Compostela. Er antwortet erst nach Wochen mit einer belanglosen Karte. „Für Jule war Böwe längst verschwunden, hinter so einem leeren Klingelschild, in einem kleinen Leben, aber in einer großen Stadt und ohne Frau. Ohne Frau, da war sie sich eigentlich sicher. Denn Liebesaffären mit all ihrer Energie und Hoffnung stellten sich nicht unbegrenzt ein. Leo Böwe hatte eines Tages mit seinem Doppelleben aufgehört, wie andere aufhören, Tennis zu spielen. Ja, jeder wurde vom Alter überrascht, und der Frost kam immer über Nacht. Das Persönlichste, was Jule von ihm wusste, war Leo Böwes Leidenschaft für Rosemarie Nittribit.“

Der Schluss von „Kaiserstraße“ führt Vater und Tochter – aus unerklärlichen Gründen – dennoch wieder zusammen. Zumindest indirekt. Wir erfahren, dass Böwe im Polizeipräsidium auf den Spuren Rosemarie Nitribitts recherchiert und sich bemüht, Einlass in ihre frühere Wohnung zu finden. Jule folgt ihm auf dieser Spur. Es gelingt ihr tatsächlich, die Wohnung zu besichtigen, wodurch sich allerdings – wie auch? – keinerlei neue Aufschlüsse ergeben. Eine späte Versöhnung zwischen Tochter und Vater? Folgte Jule, wie ihr Vater, einem Instinkt, den sie sich selbst nicht erklären konnte?

Ein subversiver Zeitroman

„Kaiserstraße“ verbindet Motive früherer Romane Judith Kuckarts. Leo Böwe gleicht Hans-Ulrich Kolbe aus „Der Bibliothekar“ (1998). Auch jener 53-jährige Oberbibliothekar ist von einer „fixen Idee“ besessen, die ihn ins Unheil stolpern lässt. Er liest zufällig ein Buch über die Geschichte des Pariser Nachtclubs „Crazy Horse“ und stürzt sich daraufhin ins Berliner Nachtleben. Als er der 28-jährigen Jelena verfällt, läuft sein Leben aus dem Ruder. Hier wie dort: das Triebhafte bricht auf unerklärliche Weise in den Alltag der Protagonisten ein, übt einen zerstörerischen Sog aus.

Die Jule-Geschichte aus „Kaiserstraße“ schreibt ein Hauptthema Kuckarts fort, die Suche einer Frau nach dem Glück. Die Analogien, etwa zu „Lenas Liebe“ (2002) oder den Erzählungen aus „Die Autorenwitwe“ (2003) lassen sich bis in einzelne Figuren und Sätze verfolgen. Kuckarts Akteure sind ruhelose Existenzen, die in kaputten Welten leben und unter gestörten Beziehungen leiden. Oft tragen sie eine unerbittliche Bürde mit sich herum und scheitern an der Unfähigkeit, ihre Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Auch in „Kaiserstraße“ stellt Judith Kuckart existentielle Fragen nach dem Sinn des Lebens (noch nicht verpönt!) und gelangt zu skeptischen Einschätzungen. Menschen sind, glauben wir der Autorin, oft unbehauste, getriebene Geschöpfe. Sie laufen vielleicht lebenslang einem Trugbild, einem Fetisch nach.

Auch bei den kompositorischen Elementen bleibt sich die Autorin treu. Gemeint sind ihre lakonisch knappen, kargen Sätze und eine aufwändige Montagetechnik, die mit harten Schnitten, Rückblenden und Zeitsprüngen an Stilmittel des Films erinnert. Judith Kuckart, die Theaterfrau, liebt das Inszenieren. Sie führt mit straffer Hand Regie und konstruiert ihre Romane mit mathematischem Kalkül. Auch „Kaiserstraße“ liegt, in Teilen zumindest, wie ein Puzzle vor uns. Dennoch fällt die Lektüre leichter als bei früheren Werken der Autorin, weil der chronologische Faden das Geschehen zusammenhält.
Leicht will es die Autorin dem Leser jedoch nicht machen. Der komplizierte Erzählaufbau, der den Lesefluss immer wieder hemmt, dient, wie auch die skurrile Namensgebung der Protagonisten, als Mittel der Verfremdung. Das eröffnet der Autorin die Möglichkeit, zwischen Pathos und Ironie zu changieren. In „Kaiserstraße“ lässt die Autorin vereinzelt Elemente des Humoristischen zu. In der Hauptsache sind die Szenen jedoch auch hier von Tristesse geprägt: Es regnet fast unablässig.

Judith Kuckart erzählt, wie immer, mit starker, sinnlicher Emphase. In „Kaiserstraße“ sind es besonders Gerüche, die uns einzelne Szenen vergegenwärtigen. „Es roch nach Autoabgasen in dem Moment, und der Fremde hatte sich eine Zigarette angezündet, die nach Nelke duftete.“ Als sich Böwe im Bahnhofskino „Das Mädchen Rosemarie“ ansieht, atmet jemand Nelkenduft in seinen Nacken. Viele weitere Beispiele ließen sich anführen.

Die Kritik hat eingewandt, dass sich Kuckarts Romane oft in einem Kunstraum abspielen. Auf „Kaiserstraße“ trifft das weniger zu. Die Akteure erscheinen nicht abstrakt, sondern vertraut. Gleich serienweise bevölkern Aufsteigertypen wie Böwe die deutsche Romanwelt nach 1945 (auch die westfälische, man denk nur an Paul Schallücks „Ankunft null Uhr fünf“, 1953, oder Thomas Valentins „Hölle für Kinder“, 1961) und sind prädestiniert dafür, das Gefühl der Verlorenheit zum Ausdruck zu bringen. Wir treffen sie in armseligen Hotelzimmern an, wo sie leere Wände anstarren. Wie Böwe hängen sie abstrusen Gedanken nach.
Wer „Kaiserstraße“ als historische Chronik liest, wird enttäuscht sein. Dann bietet der Roman, wie Stephan Maus in der „Süddeutschen Zeitung“ hervorhob, wenig Neues. Es ist zwar alles da: der Tod von Benno Ohnesorg bei den Schah-Protesten 1967, der deutsche Herbst mit der Schleyer-Ermordung und den Toten in Stammheim 1977, der Mauerfall 1989 und die Jahrtausendwende 1999, dazu Streiflichter aus der Populärkultur von Elvis Elvis Presley über James Dean, Peter Kraus, Freddy, Heino bis zu Pink Floyd. Und doch: Die in „Kaiserstraße“ in fünf Zehnjahresschritten entwickelte deutsche Chronik bildet nicht das Hauptthema des Romans, sondern nur die Kulisse für eine Handlung, deren zentraler Konflikt psychologisch verankert ist. Was veranlasste Böwe so zu handeln, wie er es tut? Was reizt ihn am Verbotenen, Subversiven, Voyeuristischen? Weshalb ist das Triebhafte mit dem Grausamen gekoppelt? Die Autorin gibt keine Antworten, sie konstatiert lediglich und wirft beunruhigende Fragen auf.

Böwe scheitert, anders als Kolbe im „Bibliothekar“, nicht an sexuellen Obsessionen, sondern am schleichenden Gift unerfüllter Sehnsüchte. Sein Abstieg ist tragischer als der Kolbes, weil er die Möglichkeit einer „Erlösung“ ausschließt. Nur folgerichtig endet Böwe als kindische Figur, die mit rosa Hemd und der rosa Plakette “Iss noch ein bisschen!“ Bahnhofshallen durchstreift.
Indem Kuckart „Kaiserstraße“ in der konkreten bundesrepublikanischen Geschichte ansiedelt, gewinnt der Roman allgemeingültige Züge. Er repräsentiert eine Gesellschaft, die von nichts so sehr geprägt war wie von Verdrängung und Triebunterdrückung. Mit den bekannten Folgen bei der „Vätergeneration“ bis heute. Kuckart bietet das Psychogramm einer Generation, die – siehe Böwe – dabei ist, sich der Lächerlichkeit preiszugeben. Ihre Erben tragen schwer an dieser Last. Sie sind gezwungen, den Mangel an Liebe auf ihre Weise zu bewältigen.

In dieser Hinsicht ist „Kaiserstraße“ ein Zeitroman mit hohem subversiven Potenzial. Oder, wie Jörg Plath meint: „So unsentimental betörend wie Judith Kuckart erzählt gegenwärtig niemand von der Droge Sehnsucht - und ihren verheerenden Nebenwirkungen.“

Walter Gödden