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Marcel Diel: Schädel-Lektion in der Wunderkammer

Was macht der Autor im Archiv? Vortrag anlässlich der RLA-Autorenfortbildung am 21.3.2006

Weimar, September 1826. Zwei Freunde, die sich lange, sehr lange nicht gesehen haben, begegnen sich wieder. Der eine berühmtester Dichter seiner Zeit, der andere nicht minder bedeutend, jedoch in einem Punkt entschieden im Nachteil: Er ist tot, seit über zwanzig Jahren schon, nur sein Schädel ist anwesend, ruht »auf einem blausamtenen Kissen«, wie Wilhelm von Humboldt, mutmaßlich einziger Zeuge dieses morbiden Treffens, berichtet, der sich selbst wie auch sein Gastgeber »an der Form dieses Kopfes nicht satt sehen« kann. Die Chance auf diese letzte Begegnung, die sich der Anordnung des Weimarer Magistrats verdankte, die Gebeine des frühverstorbenen Dichters einer ehrenvolleren Beisetzung zuzuführen, hat Goethe sogar seine lebenslange Scheu vor der Konfrontation mit dem Tod überwinden lassen.

Im Studierzimmer sitzend schreitet er, bei Betrachtung von Schillers Schädel, in Gedanken durch die letzte, nunmehr vor-vorletzte Ruhestätte des Freundes, das Beinhaus wird ihm, naheliegend, zur Allegorie des alle Menschen gleichmachenden Todes: »Sie stehn in Reih geklemmt, die sonst sich haßten, / Und derbe Knochen, die sich tödlich schlugen, / Sie liegen kreuzweis, zahm allhier zu rasten. […] Und niemand kann die dürre Schale lieben, / Welch herrlich edlen Kern sie auch bewahrte«, schließt er den Gedanken ab. Doch dann gewahrt das Auge seines lyrischen Ichs »inmitten solcher starren Menge / Unschätzbar herrlich ein Gebild«, das es trotz der Enge und »Moderkält« des Raumes »frei und wärmefühlend« erquickt, »[a]ls ob ein Lebensquell dem Tod entspränge«: den Schädel des Freundes, versteht sich, der nun wie folgt gepriesen wird:

Wie mich geheimnisvoll die Form entzückte!
Die gottgedachte Spur, die sich erhalten!
Ein Blick, der mich an jenes Meer entrückte,
Das flutend strömt gesteigerte Gestalten.
Geheim Gefäß! Orakelsprüche spendend,
Wie bin ich wert, dich in der Hand zu halten?
Dich höchsten Schatz aus Moder fromm entwendend
Und in die freie Luft, zu freiem Sinnen,
Zum Sonnenlicht andächtig hin mich wendend.
Was kann der Mensch im Leben mehr gewinnen,
Als daß sich Gott-Natur ihm offenbare?
Wie sie das Feste läßt zu Geist verrinnen,
Wie sie das Geisterzeugte fest bewahre.



Das bloße materiell Vorhandene, die eigentlich »dürre Schale«, gerät durch den Blick des Freundes zum »herrlichen Gebilde«, zum »geheimen Gefäß« des immateriellen »Geisterzeugten«. Der profane Schädel, auf diese Weise dem »Moder fromm entwendet«, erinnert nicht nur an den Freund; seine Bedeutung geht über das Subjektiv-Persönliche hinaus. Er bewahrt das, womit der Freund sich ins überzeitliche Gedächtnis der Welt eingeschrieben hat: seinen Geist und dessen Erzeugnis, das Werk. Das Materielle wird somit zum Ausdruck und Abbild des Immateriellen, oder anders gesagt – und damit weg von dieser verquasten Germanistenrhetorik –: Der Schädel ist ein Archiv.


Der Gedanke des Literaturarchivs als Stätte der Aufbewahrung, Pflege, Katalogisierung und Auswertung von Schriftsteller- oder Künstler-Nachlässen und -Sammlungen (so die gängige Definition) geht unter anderem zurück auf den Philosophen Wilhelm Dilthey, der Ende des 19. Jahrhunderts forderte, alle »wertvollen Lebensäußerungen eines Volkes, die sich in der Sprache darstellen« in einer neuen Institution der Literaturpflege zusammenzufassen:

»Aus der Pietät gegen unsere Schriftsteller und aus dem Bedürfnis unserer Forschung entstehen neue Anforderungen, [...] die sich auf Erhaltung, Sammlung und zweckentsprechende Eröffnung der Quellen beziehen […] Genuß und Verständnis unserer Literatur empfängt aus diesen Handschriften eine unberechenbare wertvolle Bereicherung, und die wissenschaftliche Erkenntnis ist an ihre möglichst ausgiebige Benutzung schlechthin gebunden […] Nur Archive ermöglichen die Erhaltung der Handschriften, ihre angemessene Vereinigung und ihre richtige Verwertung.«


In diesen Zeilen klingen bereits die Aspekte an, die bis heute in mehr oder minder starker Gewichtung das Aufgabenfeld von Literaturarchiven abstecken: Handschriften zu sammeln und zu erhalten und der Forschung wie auch der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, womit auch eine Aufwertung derselben gegenüber gedruckten und in Bibliotheken wie im Buchhandel erhältlichen Werken verbunden ist; damit einhergehend die Wichtigkeit nicht nur von handschriftlichen, sondern allgemein von Lebenszeugnissen des jeweiligen Schriftstellers oder Künstlers zu betonen, die es ermöglichen, weit mehr als nur dessen Lebensweg nachzuverfolgen, sondern zum Beispiel auch Aufschluss geben über zeitgeschichtliche Hintergründe, sein persönliches Umfeld, seine Beziehungen zu anderen Zeitgenossen, aber auch Geistesströmungen, und aus diesem Informationsfundus wiederum Rückschlüsse auf Entstehung, Motivation und Referentialität seines Œuvres erlauben (eine umfassende Kontextualisierung also); schließlich kulturelle Traditionslinien en gros herauszuarbeiten, den geschichtlichen und kulturellen Wandel zu dokumentieren und damit die kulturelle Identität einer Region, eines Sprachraums, einer Ethnie, einer Epoche in einer Art Koordinatensystem abzubilden; und nicht zuletzt durch Publikationen und Veranstaltungen die Öffentlichkeit verstärkt auf bestimmte Autoren und dadurch natürlich auch auf die Existenz und Förderungswürdigkeit der Institution selbst aufmerksam zu machen.


Willkommener Anlass dafür sind Gedenktage, wenn nicht gar Gedenkjahre, wie wir es 2006 etwa mit Mozart und Heine erleben. Etwas polemisch könnte man sagen: Alle paar Jahre steigt man hinab in die Gruft der deutschen Dichter und Denker, schaut nach, wie weit der Verwesungsprozess fortgeschritten ist, huldigt den Gebeinen und dankt artig, bisweilen auch überschwenglich fürs Da- oder Vorbild-gewesen-Sein. Auch so ließe sich das eingangs zitierte Goethe-Gedicht schließlich deuten.

Ernsthafter gefragt: Sind Gedenkfeiern und Archive nicht eine immer wieder erneuerte Forderung nach Traditionspflege, nach kultureller Identität? Nun, zumindest sind sie ein Angebot, sich damit produktiv auseinanderzusetzen, sei es der Selbstbestätigung, des Sich-wieder-Erkennens im anderen oder gerade im Gegenteil der Selbstentfremdung wegen. Ein Betrachtungsangebot. Doch genügt die Betrachtung des Schädels alleine nicht; die »dürre Schale« muss durchdrungen, muss als »Gefäß« und ihrem In- oder Gehalt nach erkannt werden. Das Archiv will durchmessen, will kartographiert sein. Es ist, wie Walter Moers es in seinem Roman Die Stadt der Träumenden Bücher, der zugleich eine grandiose Persiflage des deutschen Literaturbetriebs darstellt, so treffend charakterisiert, eine »Wunderkammer. Nicht deswegen, weil es hier irgendwelche Wunder zu bestaunen gäbe, sondern weil wir uns über all die Sachen hier drin nicht aufhören können zu wundern.« Dieses sich Wundern, dieses immer wieder aufs Neue erstaunt Sein ist es, wozu Archive ihre Benutzer einladen. Und damit sind nicht nur die Forscher gemeint, sondern auch diejenigen, die quasi per definitionem dazu berufen und in der Lage sind, sich mit den Toten in der Sprache der Lebenden zu unterhalten: die Autoren.


Was also will der Autor im Archiv?


Zweierlei will er:

Erstens: Spuren suchen – mit Goethe gesprochen: »die gottgedachte Spur, die sich erhalten«, das heißt in unserem Falle: Traditionslinien nachspüren, und setzt voraus, dass man sich als Schriftsteller selbst in einer Tradition stehend wahrnimmt (und sei es durch die radikale Ablehnung von Traditionen, die ja gerade bei uns Jüngeren – nunja, eben Tradition hat). Wenn das der Fall ist und man die erste Scheu vor dem Umgang mit Archivalien und Archivaren überwunden hat, wird die »Wunderkammer« unversehens zur Ahnengalerie und führt die Recherche zur Entdeckung der eigenen literarischen Identität und Originalität (sofern es das gibt).


Nun könnte man einwenden, dass sich diese Erfahrung doch auch allein durch die Lektüre der in Bibliotheken und im Buchhandel verfügbaren Literatur machen ließe, wozu also der Aufwand? Stimmt, ließe es sich – aber: nicht genauso intensiv. Der Unterschied ist in etwa derselbe wie der zwischen einem schon oft herumgereichten Familienalbum und dem Schatzkästlein, in dem die Oma Zeit ihres Lebens all das aufbewahrt hat, was ihr persönlich wichtig und erinnernswert erschienen ist. Das erstere lässt kaum mehr Fragen offen, die Bilder sind sorgsam ausgewählt und beschriftet, der Bedarf an Eigenrecherche oft minimal, zumindest dann, wenn man sich mit einer oberflächlichen Betrachtung zufrieden geben möchte.

Ganz anders dagegen das Schatzkästlein, dessen Inhalt man sich Detail für Detail selbst erschließen muss und dabei im voraus nie wissen kann, welche Bedeutung das einzelne für das Gesamtbild, auf das man hinzielt, hat, ja ob die Kombination der Teile überhaupt ein Ganzes, eine durchgängige, konsistente Erzählung ergibt. Schon das sinnliche Erlebnis ist ein ganz anderes. Ungereimheiten und Rätsel, Bruchstellen werden sichtbar, manche davon können durch Abgleich mit dem Familienalbum überbrückt werden, andere fordern eine intensivere Recherche und damit die eigene Kreativität heraus. Der Impuls für eine künstlerische Auseinandersetzung ist also (zumindest potenziell) ungleich stärker, das Ergebnis oft befriedigender, denn man hat nicht nur eine Ahnung davon bekommen, woher man stammt, wes Geistes Kind man ist, man hat es sich vor allem selbst erarbeitet. Heimwerker kennen das Gefühl.


Archive sind freilich nicht nur ein Betrachtungs-, sondern sehr viel konkreter auch ein Informationsangebot, das sich in besonderem Maße zur historischen oder personenbiographischen Recherche empfiehlt – nicht nur für Texte, die dem Genre der Historischen Erzählung angehören, wie aktuell etwa der vielbesprochene Roman von Daniel Kehlmann, Die Vermessung der Welt, zeigt, der Fakten und Fiktionen virtuos miteinander zu verknüpfen weiß. Wer seinen Lesern mit überraschenden Details aus dem Leben und Werk einer historischen Figur oder einer Epoche aufwarten möchte, die keiner oder zumindest kaum einer bereits veröffentlichten Studie zu entnehmen sind, wird in der »Wunderkammer« des Archivs mit Sicherheit fündig werden.


Zweitens: Spuren legen – das heißt: sich selbst in das Archiv einschreiben, sei es per Nachlass oder bereits zu Lebzeiten. Denn auch das ist Aufgabe dieser Institution: die Gegenwart (als zukünftige Vergangenheit sozusagen) zu archivieren, ihre kulturellen Spuren somit für spätere Generationen nachvollziehbar und gleichsam, so der der Literaturwissenschaftler Ralf Schnell, als »Erinnerungen zu bewahren, in denen wir – womöglich – Entwürfe unserer Zukunft erblicken können«. Darüber, welche Kriterien man erfüllen muss, um etwa als im Rheinland ansässiger Autor mit Manuskripten, Briefen und anderen Lebenszeugnissen ins Rheinische Literatur-Archiv und damit ins kulturelle Gedächtnis eingehen zu dürfen, kann ich freilich keine Auskunft geben, möchte diese Frage aber sogleich weiterleiten und damit die Diskussion eröffnen.