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Mechthild Curtius: Wie Döhnkes entstehen

Neuer Text der in Frankfurt lebenden Autorin für ihren Bestand im Westfälischen Literaturarchiv

März 2006: In der Dunkelheit fahren wir von Bielefeld nach Osten, übernachten mitten in Lemgo, im Schlosshotel Stadtpalais voller historischer Möbel und Antiquitäten, schöner Stiche und Gemäldekopien, ein Perückenkopf stößt die Nase gegen die Betrachter im Gang, sieht nur so aus, weil ein Loch im Gemälde, neben der Nase in der Wange, schlecht ausgebessert wurde. Soll als spätgotischer Adelssitz 1540 von Franz von Kerssenbrock im Stil der Weserrenaissance geändert worden sein; diese Stilrichtung wird uns begleiten. Am anderen Morgen wie damals nach der Drostejahr-Lesung herumgegangen und Olaf die romanische Kirche außen herum samt den Ackerbauerhäusern gezeigt, verwitterte Reliefköpfe fotografiert, auch die bemalten der Musen und der Heilsgelehrten am Renaissancerathaus, das Junkerhaus mit den Holzschnitzereien ist inzwischen Museum und mit dem damals als Verrückten Ausgelachten geben sie an. Für den Autor ist es vor Jahren Grundlage für die Geschichten geworden:



1. Holzgespenster

Im Haus des Schreinermeisters Hannes Faber ist alles aus Holz geschnitzt und gedrechselt, was in Kirchen und Schlössern in Stein gehauen ist. Ich bin heimlich in das 'Geisterhaus' durch eine Kellerluke eingestiegen; keiner durfte es wissen. Dort spukt es, hat es geheißen. "Der verrückte Tischler-Hannes hämmert noch immer am Kinderzimmer." Verfallen liegt das große Haus hinter knorzigen Obstbäumen mit wurmigen Äpfeln und Birnen, und weil alles aus Holz ist, haben sich die Wände verzogen, klaffen Lücken, Feuchtigkeit und Ungeziefer dringen ein. "Aus unglücklicher Liebe", haben die Nachbarn geraunt, "ist er verrückt geworden, ist ledig geblieben und hat sich Frau und Kinder selber erschaffen! Aus Holz! Der Hagestolz hat sich seine Familie sozusagen geschnitzt, das Haus für Frau und Kinder eingerichtet, alle Möbel selber gebaut, Eltern-Himmelbett im Schlafzimmer, Kinderzimmer mit Wiege, Kinderstühlchen am ovalen Esstisch, selbst auf dem Klosett steht ein winziger Kinder-Nachtstuhl aus weißlichem Holz. Die Möbel stehen und warten auf Brautnacht und Wickelkind, wie Gespenster aus Holz. Später hab ich mich einmal hineingewagt und unter Spinnweben die Holzfiguren sitzen gesehen, Wickelkind in der Wiege, junge Frau am Küchentisch, daneben ein Mädel aus Holz mit Zöpfen wie Hanf. Vorsichtig hab ich die Spinneweben von Mutters Gesicht weggezogen. Erst als ein Sonnenstrahl drauffällt und ich die Gesichtzüge meiner Mutter erkenne, lief ich fort. Die Leut haben recht, dass der Schreiner-Hannes heimlich in meine Mutter verliebt war.


2. Tischler Willem Faber, der Uhlenspiegel aus dem lippischen Bergland.


Wie ein Waldschrat mit Försterhütchen und das Gesicht um und um von Bart zugewuchert, hat er im Teutoburger Wald das geeignete Holz für das Haus gesucht und die Kinder erschreckt, die er doch so gern gehabt hätte, als Vater. 1889 hat er angefangen, das geerbte Haus umzugestalten, keine Stilart Europas scheint ihm entgangen zu sein, die er etwas hilflos ausgeführt hat. Er legte das Fachwerk über dem Backsteinsockel frei, drei Stockwerke hoch. Mit Schnitzwerk bedeckte, übersät er alles, innen und außen, ließ keinen Platz frei. Das Gebäude bekam einen originellen Reiz; man muss das sehen, wie er Bogenfenster und Reliefs aus toskanischem Stein in Holz nachzuformen versucht hat. Manie oder Methode - gern werden Künstler zu Lebzeiten als Spinner verlacht. Mit dem Kunststudium hatte es dieser Lemgoer 'Homo Faber' in München versucht, einen Monat lang. Dann lieber seine Zunft-Wanderschaft als Tischler-Geselle (auf Westfälisch Schreiner) durch ganz Italien gemacht, Eindrücke nach Lemgo mitgebracht und die ungleichsten Stil-Geschwister in Holz umgesetzt, bis zum Tode am Haus mit der Schreiner-Werkstatt gewerkelt. Das dreistöckige Erbhaus der Fabers stand lange leer zwischen hochgewachsenen Baumkronen im Lemgoer Osten, nicht weit von der Lebkuchen-Fabrik, und wie aus Lebkuchen geformt kamen mir im Drostejahr während der Lesung dort die knorpeligen Schnitzereien auch vor. Fernöstlich wirken die Rattan-Gewinde und Bugholz-Möbel, bei Ansicht der Fassade lösen sich Assoziationen an San Miniato al Monte. Und das alles aus Holz! Als Mädchen bin ich mit Freunden heimlich in das ,Geisterhaus' durch eine Kellerluke eingestiegen; keiner durfte es wissen. Mit meiner ersten Liebe war ich dort sicher, keiner traute sich hin. "Dort spukt es, hat es geheißen. Der verrückte Tischler hämmert noch immer am Kinderzimmer."


Verfallen lag das große Haus hinter knorzigen Obstbäumen mit wurmigen Äpfeln und Birnen, und weil alles aus Holz war, auch was ursprünglich aus Stein gemauert ist, hatte es sich verzogen, klafften Lücken, Feuchtigkeit und Ungeziefer drangen ein. Die Erwachsenen sahen die Schäden nicht, weil sie nie hinter die kindshohen Brenn-Nesseln guckten, wie neugierige Kinder das tun. In das große Spukhaus ging aber niemand mehr hinein. Nur von weitem haben es alle beobachtet. Der Garten blühte allein vor sich hin, in dunkleren Ecken an der Schreinerwerkstatt violett um spitzgelbe Staubgefäße der tödliche Nachtschatten, giftiger Eisenhut meterhoch im Garten und wie der Rittersporn hochstaudig blau. Phlox reckte rote und weiße Blütenräder duftend aus Dolden, in den Kelchen der Madonnenlilie streiften Hummeln gelbgoldenen Pollenstaub an wachsweiße Blütenblätter. Die Zaunstaketen verfielen mit den Jahren, die Feldblumen wucherten hinein, blaue Kornblumen, rote Mohnblumen, weiße echte Kamille mit hohen und Hundskamille mit platten gelben Blütenkörben, lila Kornrade, die grünen Schleier des Erdrauchs mit den zarten rosa Blütenstäbchen, Melde, Schachtelhalm, Breitwegerich, Spitzwegerich vom Feldrain.

Die alte Luzia hat oft vom Verrückten Faber erzählt. Schlaflos sei der alte Meister im Gespensterhaus herumgegeistert. Sehr von fern und hinter Nebel, der am Morgen aus den Kräutern stieg, konnte man flackerndes Kerzenlicht sehen, das von Fenster zu Fenster wanderte und den Schatten einer Gestalt, die von Raum zu Raum herumwandelte, einsam mit einer Kerze durch die drei Stockwerke. Zu Fabers Beerdigung im Jahr 1912 war sie ein Schulmädchen. Mehrere Frauen, auch ihre Mutter, seien laut Gerücht die unglückliche Liebe des "Spökenkieker-Faber" gewesen. Diesen Spuk mit dem Zweiten Gesicht, der westfälischen Version von Visionen, sagen sie dort jedem Besonderen nach, von der Dichterin Annette von Droste-Hülshoff bis zum Großbauern, der auf seinem einsamen Hof zwischen vielen hundert Morgen vom bestem Getreideland vor unserer Zeit leicht sonderbar wurde. Also auch dem kauzigen Tischler, der dieser Volksfantasie so viel zu tun gab. Zu seiner Beerdigung sei sie an der Hand ihrer Mutter gegangen, hatte die Luzia erzählt, ihre Mutter habe sonderbar lange geweint, heimlich zuhause inne Deele beim Rübenkraut-Rühren. Ganz bekleckert und klebrig sei sie von dem schwatten Zuckerrüben-Sirup gewesen, so sehr in Gedanken.


Jetzt ist die alte Luzia sehr verändert. Sie ist noch immer groß und knochig wie viele Westfalen, aber fast zum Skelett abgemagert. Sie hat seit acht Jahren Alzheimer und die zierliche Diakonissin vom Pflegedienst hat es schwer, die sperrige Frau zu bewegen. Im Parterre des Backsteingebäudes zwei Häuser weit weg vom "Schnitzhaus" wohnt Luzia. Sie hält laute Reden, keiner weiß, für wen, keiner weiß, was sie hört und sieht in ihrem veränderten Geiste. Die Hirnforscher wissen selbst auch zu wenig, doch täglich mehr; dass das Hirn sich neu aufbaut, gehört zu jüngeren Beobachtungen. Luzia reckt den Kopf höher, die hochgewachsene würdige Westfälin, hartknochig unter sehnigem Hals, mageres Gesicht zwischen grauem Bubikopf, aufgerissene braungraue Augen wollen alles erkennen, drehen sich leicht, und das eine Ohr, das besser hört, ist der hellen Tür zugereckt. Jetzt am Morgen sitzt sie am Bettrand, der Trainingsanzug spannt über knochigen Knien. Sie wirkt aufmerksam, nicht abwesend, als ich sie anrufe, sie streckt mir die sehnigen Arme entgegen, ich komme heran, sie umarmt mich. Das nötigt mir geradezu die Vision der Luzia als Zopfmädchen auf, und ich stelle mir vor, sie finge ein neues Leben an. Ich erinnere mich an meine westfälische Kindheit, als Zärtlichkeiten verpönt waren, als lächerlich galt, Kinder zu streicheln. Jedenfalls wurden die Städter ausgelacht, wenn sich Eltern und Kinder umarmten und küssten zum Abschied. Ich selbst sagte nichts, ich war neidisch. Daran denke ich verwundert, als die spröde Frau mich umarmt und "miene leiwe Willem" flüstert.

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Mechthild Elisabeth Curtius (-Hauke) geborene Wittig, Tochter und Sohn, lebt und arbeitet mit dem Maler Olaf Hauke in Frankfurt. Seit 16. Lebensjahr Werkschülerin und Werkstudentin mit Arbeiten in Fabriken, Büros, Bank, Bars, Universitäts-Bibliothek. In Marburg an der Lahn Studium der Germanistik, Romanistik, Ethnosoziologie und Kunstgeschichte. Als Literaturwissenschaftlerin schrieb sie theoretische Bücher und Essays. 1971 Dissertation über Elias Canetti. 1982 Habilitation 1982 über „Erotische Utopien bei Thomas Mann“, Colloquium über „Locus amoenus - Landschaft in der Literatur seit der Antike“.

Hauptthemen sind Ästhetik der Kreativität, Erotik & Wandel, Wahrnehmen und Erinnern, Landschaft als Schöpfungsmetapher. Bücher u.a. in den Verlagen: Bouvier, Europäische Verlagsanstalt, Suhrkamp, Insel, Benziger, Athenäum, S. Fischer, Schöningh, Aufbau. Landschafts- und Literatur-Sendungen (Text & Regie) in ARD, Funk & Fernsehen, Essays und Erzählungen in Anthologien und Literaturzeitschriften.

Ihre (westfalenspezifischen) Arbeitsmaterialien hat Mechthild Curtius dem Westfälischen Literaturarchiv übergeben. Den vorangehenden Prosatext hat sie kürzlich ihrem Bestand zugefügt.