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Enno Stahl: Das Archiv als gesellschaftliches Gedächtnis

Aktenhölle, Staubkerker oder vitaler Erinnerungsspeicher?

Der Archiv-Begriff hat in den letzten fünfzehn Jahren eine erstaunliche Karriere gemacht. Eigentlich Blueprint für Staublunge, Stickluftmuff und allgemeine Archaik, ist er auf einmal ins Zentrum des Interesses gerückt. Ja, Mit einem US-Sportreporter könnte man salopp formulieren: es ist das größte Comeback seit Lazarus!

Natürlich hat nicht das Archiv selbst, das physische Archiv, diese Aufwertung erfahren – hier grassieren die tradierten Klischees und Vorurteile: „Aktenhölle“, „Schimmelbrutstätte“, Labyrinthisches alle Male, und der Archivar sitzt darin wie eine Spinne im Netz, selbst „spinnwebenbedeckt, ärmelschonertragend, licht-, luft- und publikumsscheu […]in dunklen Katakomben hinter seinen Urkunden verschanzt“.

Nicht die Institution, sondern die Metapher ist auf solch verblüffende Art „hip“ geworden in gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskursen. Bei der breiteren Öffentlichkeit hat wohl das Internet und seine rasante Entwicklung dazu den Anstoß gegeben. Denn das World Wide Web ist – so lauten immer wieder Bekundungen und Beschreibungsversuche – ist ein gigantisches, hochdynamisches Archiv. Dass die Qualität, also die Verlässlichkeit, der darin enthaltenen Daten fragwürdig ist, darüber herrscht große Einigkeit. Die Flüchtigkeit und wabernde Veränderlichkeit des Internets mit einem Archiv in Verbindung zu bringen, diesem Sinnbild für Dauer und Bewahrung, ist daher eigentlich ein Widerspruch in sich. Wahr ist jedoch, dass die faktische Realität des Netzes offensichtlich den Blick geschärft hat für Speichersysteme und -systematiken, Datenbanken und Formen informationeller Vernetzung.

Das Internet ist Teil der Realität, es hat diese aber auch durchgreifend verwandelt: Realitätsbegriff und Realitätsempfinden sind heute durch ubiquitäre Zugriffsmöglichkeiten geprägt, die Perspektive ist auf die Welt eine völlig andere geworden. Unleugbar haben sich neben der fasslichen, der sogenannten „authentischen“ Realität neue Räume aufgetan - nicht Epiphänomen (Erscheinung), sondern tatsächlich Vorhandenes -, Räume, die zunehmend eigenes Recht und Gesetz reklamieren – bis hin zur realistischen promesse de bonheur, eine alternative, rein virtuelle Existenz in der Internet Community „Second Life“ zu führen, das schnöde Erdenleben also zugunsten eines schmerzfreien, „höheren“ Daseins, einer digitalen unio mystica aufzugeben.

Während diese wirklichkeits(ver)formenden Konstituenten der IT-Welt kaum mehr zu liquidieren sein dürften, computergenerierte Seinssäume das Feld unserer Handlungs- und Wahrnehmungsmöglichkeiten wuchernd einschränken und beengen, ist die Funktionsbedingung eines freien, gleichen und offenen Zugangs für alle dramatisch im Schwinden begriffen. Immer mehr Segmentierungen und Einkerbungen erfährt das vorgeblich frei(heitlich)e Spielfeld der E-Medien, weite Bereiche bleiben ausgespart oder besonderen Nutzern vorbehalten, so dass die zukünftige Wirklichkeit des World Wide Web sehr bald gesellschaftliche Prozesse sozialer Exklusion spiegeln, ja, sie symbolisch und faktisch abbilden wird.

Rigide Kontrolle, ebenso wie das Kappen des Zugangs sind hier – wie noch nie – per Fernsteuerung, ja, mit einem Mausklick zu bewerkstelligen, neuen „Schreibtischtätern“ öffnet das Tür und Tor.

Das Archiv aber, das physische, kommunale oder staatliche Archiv, ist im besten (d.h. möglichst: üblichen) Falle für alle da, freie Zugänglichkeit ist Teil seiner Aufgabendefinition, die Aufarbeitung und Bereitstellung seiner Datenbestände für die Öffentlichkeit eine legislativ begründete Verpflichtung.

Die verkürzende, bisweilen gar ideologische Verzerrung und Bedeutungsverwischung des Archivbegriffs findet seine analoge Fortsetzung in den wissenschaftlichen „In“-Diskursen, das „Archiv“ als mythosschwangerer Erinnerungs- und Gedächtniskorpus ist spätestens seit den Poststrukturalisten zu „einer kulturtechnischen Universalmetapher“ avanciert, die wenig mit archivischen Realitäten zu tun hat. Das muss nicht heißen, dass den kulturtheoretischen Entwürfen, welche die vornehmlich französischen Diskurs-Poeten in ihrer blühenden Archivmetaphorik verdichten, jegliche Faszination und Erkenntniskapazität abzusprechen wären, dass sie nicht sogar die Arbeit im Archiv, mit dem Archiv, am Archiv befruchten und verändern könnten. Michel Foucaults Auffassung vom Archiv beispielsweise wendet sich explizit ab von einem materiellen und „buchstäblichen“ Blickwinkel auf die Institution, um ihm eine sehr essentielle Bedeutung zu verleihen:


„Das Archiv ist zunächst das Gesetz dessen, was gesagt werden kann, das System, das das Erscheinen der Aussagen als einzelne Ereignisse beherrscht. Aber das Archiv ist auch das, was bewirkt, dass all diese gesagten Dinge sich nicht bis ins Unendliche in einer amorphen Vielzahl anhäufen, auch nicht allein schon bei zufälligen äußeren Umständen verschwinden.“


Das Archiv ist demnach Ausdruck einer Mikrosoziologie der Macht, die, allem Sprechen vorrangig, als eine Art „transzendentales Dispositiv“ fungiert, „das über die Möglichkeitsbedingungen bestimmter Redeformen a priori entscheidet“. Weil diese Definition sämtlichen kulturbildenden Prozessen ein präformiertes Raster unterlegt, besitzt sie auch für konkrete Archive Gewicht. Denn auch diese verdanken ihre Entstehung derartigen politischen Tiefenstrukturen, aber auch bewussten Einflussnahmen, die Bildung von Registraturen ist immer hegemonial geprägt, jedes Archiv wäre danach mosaikhaftes Bestandteil von Foucaults umfassendem, allem vorangehendem „Archiv“. Zu einem scheinbar unabhängigen, neutralen Erinnerungsspeicher werden die Archive erst, wenn sie ihrer ursprünglichen Funktion längst enthoben sind. Und zwar allein deswegen, weil Papier nicht nur geduldig, sondern auch lange haltbar ist, weit über die organisatorischen Tagesnotwendigkeiten hinaus, die diese Bestände einst hervorgebracht hatten: „so entsteht aus dem Archiv als Gedächtnis der Verwaltung und Wirtschaft das Archiv als Zeugnis der Vergangenheit.“

Einen verwandten, mehr bildlichen als materiell orientierten Gebrauch pflegt auch Boris Groys, er verwechselt – intentionell – den „Speicher“ und den Diskurs, der diesen erst aktiviert. Denn Groys begreift das Archiv als etablierten Zeichenkanon, der sich auf Basis der gespeicherten Diskurse herausgebildet hat. Nur anhand dessen, nämlich in der Konfrontation mit diesem, lässt sich das historisch Neue überhaupt erkennen, dadurch dass es sich vom Kanon, dem bislang Bekannten absetzt, und „wenn es nicht einfach nur für irgendein bestimmtes individuelles Bewusstsein neu ist, sondern wenn es in bezug auf die kulturellen Archive neu ist.” Daran werde nämlich erkannt, “inwieweit es sich im historischen Vergleich, der von den Archiven ermöglicht wird, vom Alten unterscheidet.”

Es ist ganz offensichtlich, dass Groys hier nicht auf Staats- oder gar Klerikalarchive abhebt, sondern auf ein Konstrukt, ein Modell der Kulturgeschichte - oder wie er es nennt: der Kulturökonomie. Das soll dokumentieren, wie innovative kulturelle Emanationen auftreten und bereits existierende Ausdrucksformen – nicht zuletzt aus Gründen wirtschaftlicher Konkurrenz –verdrängen oder besser: abdrängen ins Archiv, das Archiv also als (virtueller) Markt der symbolischen Formen:

„Jedes Ereignis des Neuen ist im Grund der Vollzug eines neuen Vergleichs von etwas, das bis dahin noch nicht verglichen wurde, weil niemandem dieser Vergleich früher in den Sinn kam. Das kulturelle Gedächtnis ist die Erinnerung an diese Vergleiche, und das Neue findet nur dann Eingang ins kulturelle Gedächtnis, wenn es seinerseits ein neuer derartiger Vergleich ist.“

Archive bilden sich aber nicht absichtsvoll wie das kulturelle Gedächtnis, dessen Einträge sich bewusst aufeinander beziehen, oft genug konfrontativ im Ringen um die Deutungshoheit. Doch auch Archive selektieren, und zwar für die Nachwelt. Da dem Archivar der geschichtliche Abstand, oder besser: die normative Kraft des Historisch-Faktischen nicht zur Hilfe kommt, sondern er in der Gegenwart entscheiden muss, was der Auswahl und Bewahrung wert, was dagegen dem endgültigen Tod durch Kassation anheim zu stellen sei, sind die Ergebnisse mitunter von recht eigenwilligen Logiken gesteuert. Zumindest dann, wenn der Archivar - vom gesellschaftlichen Umfeld her gesehen - „frei“ entscheiden kann (in dem Sinne, was man gewöhnlich dafür hält). Je stärker der hegemoniale Einfluss, darauf hat Aleida Assmann zurecht hingewiesen, desto mehr wird das „Speichergedächtnis“ des Archivs zu einem „Funktionsgedächtnis“, das politischer Herrschaft und Kontrolle unterliegt.

Jedoch, die tröstliche Nachricht ist, auch die jeweilige Machthaberschaft ist nicht Subjekt, sondern irgendwann doch Objekt der Geschichte: was einst Geheimes Preußisches Staatsarchiv, Hort landesweiter Überwachung und Bespitzelung, ist heute eine unendliche Schatzkammer für die historische Forschung – und gerade das, was damals unterdrückt werden sollte, wird hier (und teilweise nur hier) wieder wach. Da, wo niemand Aufzeichnungen hinterließ oder hinterlassen durfte, hat der Zensor alles gebührlich notiert.

Heute sind die Herausforderungen für die Archive anderer Art – es ist die Masse, nicht die Unterdrückung. Und es ist die Form, die digitale Form, die nicht nur die Wirklichkeit verwandelt und den Zugang definiert, sondern auch fraglich werden lässt, wie überhaupt noch gespeichert werden kann. Schon jetzt sind gewaltige Datenlücken gerissen, die nie mehr zu rekonstruieren sein werden. Schon einmal gab es eine Zeit, über die Urkunden kaum etwas aussagen, so wenig, dass kühne oder allzu (wahn)witzige Historiker sich dazu verstiegen, es habe sie nicht gegeben, das Mittelalter ein Simulakrum, Kaiser Karl nicht der Große, sondern der Fiktive…

Wenn heute nicht entsprechende Anstrengungen unternommen werden, könnte unsere Zeit in fünfzig Jahren tatsächlich ein schwarzes Loch der Geschichte sein, und alles, was wir jetzt sagen, hier und an anderen Stellen, wird nur Teil eines Traums gewesen sein, geträumt von Flügelwesen, so lange die Flügel schlugen…