Sonderausstellung > Archivtagung in Brauweiler > Beitrag
Weitere Beiträge
  • Sabine Brenner-Wilczek: Tagungsbericht

    Archivtagung Brauweiler
    [07.06.2017]
  • Bernd Kortländer: Überblick über die kulturelle Überlieferung in NRW

    Vorlage für die Arbeitstagung in Brauweiler am 14.4. 2005
    [17.05.2017]
  • Bernd Kortländer: Literaturpreise in den Akten kommunaler und staatlicher Archive

    Beispiele aus der Praxis
    [17.05.2017]
  • Enno Stahl: Projektberichte - Nachlassportal, E-Zine, Literarisches Leben am Rhein

    Beispiele aus der Praxis
    [17.05.2017]
  • Eberhard Illner (Köln): Sammlung und private Archive - eine Aufgabe für kommunale Archive?

    Vortrag zum Thema Archive und kulturelle Überlieferungen
    [17.05.2017]
Backlist
Alle bisherigen Beiträge finden Sie in unserer Backlist.

Zu den Netz-Datenbanken von RLA und WLA

Bernd Kortländer: Die Bedeutung von Nachlässen für die kulturhistorische Forschung

Einige Grundlagen

Die Frage, der wir heute nachmittag nachgehen wollen, ist: Was treibt einen Kulturwissenschaftler überhaupt in ein Archiv? Welchen Nutzen können diese Archive für seine konkrete Arbeit haben. Da wir allesamt in erster Linie Literaturwissenschaftler sind, sind wir diesen Fragen an Beispielen aus der Literatur nachgegangen. Man kann das aber weitgehend auch auf die Musik, teilweise auch auf die bildende Kunst übertragen. Wir sprechen im folgenden also in erster Linie von Material im Zusammenhang mit Schriftstellern.

Zunächst sollten wir uns vergegenwärtigen, welche Materialien aus dem Nachlaß der Autoren in einem Literaturarchiv aufbewahrt werden. Es handelt sich üblicherweise um drei Kategorien von Materialien:

1. Manuskripte zu Werken eines Autors;
2. Briefe vom bzw. an den Autor;
3. Zugehörige Materialien wie Dokumente, Manuskripte Anderer etc.

Einmal mehr wird bei der Benennung dieser Kategorien deutlich, daß das Prinzip der Autorzentrierung, von dem im Verlaufe der Tagung schon häufig die Rede war, in der Tat die Arbeit an Nachlässen beherrscht.

Versuchen wir anhand dieser drei Gruppen die Frage nach dem möglichen Nutzen der Archive für den Literaturforscher zu beantworten.


1. Werkmanuskripte

Schon das bloße Betrachten einer Gedichthandschrift oder eines Blattes mit dem Entwurf zu einem Stück Prosa kann verschiedene Dinge bewirken. Zunächst stellt sich aber ein ganz profanes Problem: In der Regel werden Liebhaber wie Germanistikstudenten Manuskripte unserer klassischen Autoren, die durchweg in ,deutscher Schrift‘ geschrieben sind, gar nicht lesen können. Die durch die ungewohnte Schrift geschaffene Distanz hat aber auch einen ersten sehr nützlichen Effekt, ist sie doch ein besonders nachdrücklicher Verweis darauf, daß es sich um historische Texte handelt, die auch ein historisches Verständnis erfordern. Zugleich erkennt man beim Umgang mit dem Manuskript, daß es Ergebnis eines Arbeitsprozesses ist, eines Prozesses, dessen Spuren sich auf dem Papier wiederfinden und der sich vielleicht sogar rekonstruieren läßt. Damit ist ein Einstieg gegeben in das Verständnis der Verfahren historisch-kritischer Ausgaben, Voraussetzung für ihre Benutzung und auch ihre kritische Bewertung, denn: auch Edition ist Interpretation.

Soweit Texte nicht historisch-kritisch ediert sind (und wie wenige sind das!), wird der Literaturforscher - auf ihn wollen wir uns jetzt konzentrieren - in dem einen oder anderen Fall die Werkmanuskripte auch zur Interpretation heranziehen, was allerdings große Umsicht erfordert, da erstens das Verhältnis verschiedener Fassungen sehr genau bedacht sein will und zweitens die Spekulationen über mögliche Ursachen für Veränderungen im Text leicht ins Weite und Blaue führen. Gelegentlich wird er auch bislang unveröffentlichtes Material finden und auswerten können.


2. Briefe vom bzw. an den Autor

Diese Gruppe ist mit weitem Abstand die in Archiven am meisten benutzte und nachgefragte. Das hat verschiedene Gründe. Einmal beschränken sich die wenigen brauchbaren Briefeditionen, die es gibt, ganz auf die Höhenkammautoren. Von vielen sehr wichtigen und von sehr vielen wichtigen Autoren ist briefliches Material nur über die Archive zu bekommen. Zum anderen ist die private Überlieferung in Briefen gerade in punktuellen Fragen häufig einzig verfügbare Quelle: Wer hat wen wann getroffen, gelobt, kritisiert etc.? Wie verliefen die Freundschaften und Feindschaften in der Szene?

Briefe enthalten Informationen zum Autor und zu seinen Werken, die für die Einordnung und Bewertung der Texte relevant sind und darüber hinaus die Biographie eines Autors, seine Stellung im geistigen und gesellschaftlichen Leben seiner Zeit überhaupt erst anschaulich machen. Für den Literaturforscher sind sie auf jedem Level eine unverzichtbare Quelle, deren Informationsgehalt im einzelnen und Verhältnis zum Text natürlich ebenfalls sorgfältiger Abwägung bedarf. Eigeninterpretationen von Autoren müssen nicht immer die Qualität ihrer Texte haben, sind aber auf jeden Fall lesens- und bedenkenswert. Nicht jedes Gerücht, das in einem Brief kolportiert wird, entspricht der Wirklichkeit.

Zu den Briefen gehören die sogenannten An-Briefe, d.h. die Briefe an den Autor, die naturgemäß in Nachlässen vorherrschen, während die vom Autor geschriebenen Briefe, wenn sie nicht später zurückgegeben wurden, sich ja in den Nachlässen der Adressaten befinden. Gelegentlich befinden sich bei Nachlässen auch sogenannte Umkreisbriefe, etwa Briefe der Verwandtschaft oder aus dem Freundeskreis mit Angaben über den Autor.


3. Sonstige Materialien

Nachlässe zeichnen sich gerade dadurch aus, daß sie neben den üblichen und erwartbaren Dingen wie eben Manuskripten und Briefen auch Materialien enthalten, wie sie sich im Laufe eines Arbeitslebens in Schreibtischschubladen etc. anzusammeln pflegen: Zeitungsausschnitte, Texte anderer Autoren, Andenken, Eintrittskarten, Prospekte, Fotos gehören dazu, aber auch Dokumente wie Geburtsurkunden, Führerschein usw. All dies kann u.U. von Interesse und Bedeutung für eine Beschäftigung mit Werk und Leben des Autors sein. Gerade die Zeitungsausschnittarchive in vielen Nachlässen, die häufig auch die öffentliche Resonanz auf das Werk des Autors dokumentieren, sind von hohem Nutzen für die Literaturforschung.

Man erhält Hinweise auf entlegene Drucke ebenso wie auf die zeitgenössischen Pressestimmen, in vielen Fällen die einzigen verfügbaren Äußerungen über Autoren überhaupt. Häufig sind die “Sonstigen Materialien” auch besonders geeignet, wenn es darum geht, eine Ausstellung zu einem Autor oder zu literarischen Ereignissen zusammenzustellen. Der Aspekt der historischen Ausstellungen ist in den letzten Jahren immer stärker in den Vordergrund getreten, teilweise auch gefördert durch das Interesse an den großen historischen Museen in Bonn oder Berlin. Solche Ausstellungen bieten willkommene Gelegenheiten, den Inhalt und die Arbeit der Archive einem größeren, nicht spezilistischen Publikum näher zu bringen.


4. Bibliotheken


In manchen Fällen gehören auch die Bibliotheken der Autoren zu dem Material, das Archive übernehmen. Kommen viele solcher Bibliotheken und Nachlässe zusammen, dann ergeben sich, verbunden mit einem wohlsortierten Bestand an Forschungsliteratur und Zeitschriften für den Archivbenutzer ideale Arbeitsbedingungen, wie etwa in Marbach, wo man ziemlich sicher sein kann, neben den Manuskripten auch alle relevante Literatur sofort einsehen zu können, ein großer Vorteil der reinen Literaturarchive gegenüber anderen, sachfremden Aufbewahrungsstellen von literarischem Nachlaßgut.

Der Durchgang durch die drei Gruppen von literarischen Archivalien hat gezeigt, daß der Literaturforscher im Archiv vor allem sein historisches Interesse befriedigen kann: Er wird die Biographie seines Autors, die Zeiteingebundenheit seines Lebens und Schaffens, aber auch die historische Dimension seines Schreibens erfahren und im Detail studieren und belegen können. Er wird auf das historische Netzwerk stoßen, das jeden Menschen umgibt, und das auf eine unglaublich anschauliche Weise hineinführt in ein Leben und ein Werk. Besser als jede Sekundärliteratur wird auf diese Weise auch dem relativ Unerfahrenen ein Begriff vermittelt von der Geschichtlichkeit von Literatur, oder es wird doch zumindest jenes Material bereitgestellt, an dem dieser Begriff gewonnen werden kann.

Hinzu kommt der große praktische Nutzen der Arbeit im Archiv gerade für den wissenschaftlichen Nachwuchs. In jedem Nachlaß, in jeder Sammlung, insbesondere bei nicht ganz so exponierten Autoren, findet sich eine Fülle interessanter Themen, die noch gänzlich unbearbeitet sind oder denen sich doch ganz neue Aspekte abgewinnen lassen. Meist verfügen die Archive auch über Möglichkeiten zur Publikation zumindest kürzerer Ergebnisberichte in Jahrbüchern oder Zeitschriften, manchmal gibt es auch die Möglichkeit, seine Ergebnisse in einer Buchreihe des Archivs zum Druck zu bringen. Mitarbeit an Kolloquien oder Ausstellungen sind ebenfalls gelegentlich möglich. Es wäre sehr zu wünschen, daß das Arbeiten im Archiv von Anfang an zum festen Bestandteil der Ausbildung von Literaturstudenten werden würde.

Im Rheinischen Literaturarchiv haben wir in den letzten Jahren in Zusammenarbeit mit der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf viele solcher Archivpraktika mit großem Erfolg durchgeführt. Vor wenigen Tagen erst erhielt ich einen Anruf aus dem Hauptstaatsarchiv in Düsseldorf mit dem Vorschlag, die Düsseldorfer Archive in einem Verbund auf der Webseite der Hochschule zu präsentieren, um interessierte Studenten anzulocken. Wir werden Ihnen im folgenden einige Beispiele aus unserer Arbeit auch mit der Hochschule präsentieren.