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Huub Sanders: Das Internationale Institut fĂŒr Sozialgeschichte, Amsterdam: KontinuitĂ€t und neue Aussichten im Sammlungsprofil

Literarische  Sammlungen


FĂŒr eine Gesellschaft von Archivaren literarischer Archiven ist es vielleicht interessant zu wissen dass es im Institut auch einige deutsche literarische Archive gibt. Nicht viel, aber doch einige. Als erste möchte ich Georg Weerth nennen. Der Dichter, der zusammenarbeitete mit Marx und Engels und von Engels "der erste Dichter des deutschen Proletariats" genannt wurde.

Vom Ende des neuzehnten und Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts stammt das Archiv der Anarchist Gustav Landauer.
Zum Schluss, mache ich Sie aufmerksam  auf das Archiv des Deutsch-NiederlĂ€ndischen Exilverlags Allert de Lange. Dieses Archiv, das wĂ€hrend des Krieges von der deutschen Besatzungsmacht beschlagnahmt und nach dem Krieg unversehrt, in den ursprĂŒnglichen Amsterdamer Archivmappen und Ordnern, in der DDR aufbewahrt wurde, wurde nach der "Wende" an den rechtmĂ€ĂŸigen EigentĂŒmer - den noch immer existierenden Verlag - zurĂŒckgegeben. Dieser hat das Archiv dann im IISG deponiert.

Die Kollektion besteht aus der umfangreichen Verlagskorrespondenz mit emigrierten deutschen und österreichischen Schriftstellern. Zum Beispiel findet man Korrespondenz mit Georg Bernhard, Bertolt Brecht, Max Brod, Egon Erwin Kisch, Joseph Roth, und Stefan Zweig.

Das Originalsammlungsprofil und Sozialgeschichte


Aus dieser Geschichte und Auflistung lĂ€sst sich ein Sammlungsprofil rekonstruieren. Kurz und nicht sehr nuanciert zusammengefasst kann man sagen, dass das Profil Archive und Bibliotheken aus der vollstĂ€ndigen Breite der EuropĂ€ischen Arbeiterbewegung umfasste. Das war teilweise aus der VerfĂŒgbarkeit der Materialien durch politische Entwicklungen entstanden. Anderseits passte dieses Profil zur Vorstellung der GrĂŒnder, alles das zu sammeln, was wichtig war fĂŒr die Sozialgeschichte.

Sozialgeschichte ist kein fest umrissener Begriff. Es ist eine Subdisziplin der Geschichte. Aber was es genau darunter zu verstehen ist, das ist noch immer Diskussionsgegenstand. Es ist ein Begriff, der in der zweiten HĂ€lfte des neunzehnten Jahrhunderts entstanden ist. Er hĂ€ngt eng zusammen mit der große Transformation im neunzehnten Jahrhundert: den bĂŒrgerlichen Revolutionen und der Industriellen Revolution. Zugleich ist dieser Begriff Teil der Verwissenschaftlichung von Geschichte. All diese Begriffe besitzen eine starke nationale oder eben lokale Tradition.

Dazu kommt noch, dass Geschichte und damit auch Sozialgeschichte immer stark beeinflusst werden durch gesellschaftliche und politische Situationen.

Sozial- und Wirtschaftsgeschichte sind immer sehr eng miteinander verwoben. Daran kann man die enge Beziehung zwischen Industrialisierung und Wissenschaftsentwicklung sehen.


Ein gemeinsames Merkmal der Sozialgeschichte fast ĂŒberall in Europa und Nordamerika ist die besondere Beachtung fĂŒr die Geschichte der Arbeiterbewegung. Es ist eine feste Subdisziplin innerhalb der Sozialgeschichte. Manchmal so sehr, dass Geschichte der Arbeiterbewegung und Sozialgeschichte kaum von einander zu trennen sind. Es ist kaum erstaunlich nach diesen Bemerkungen, dass Sozialhistoriker oft und von Anfang an engagierte Historiker sind. Und das hat Folgen fĂŒr ihre wissenschaftliche Themenwahl und ihr Interesse an bestimmten Sammlungen. Die Definition einer der fĂŒhrenden niederlĂ€ndischen Sozialhistoriker, Jan Lucassen, lĂ€sst sich gut kombinieren mit der Praxis des Sammelns. Er sagt:


‘[de sociale geschiedenis houdt] zich primair bezig met de wisselende interakties tussen groepen mensen. Deze groepen hebben ongelijke toegang tot de schaarse goederen en worden derhalve gekenmerkt door verschillen in inkomen en vermogen. In verband hiermee hebben zij ook ongelijke toegang tot kennis, macht en invloed’ (Jan Lucassen, “De sociale ontwikkeling van Nederland gedurende de laatste twee eeuwen: het historisch onderzoek sinds circa 1970,” in F.van Besouw et al. (eds.), Balans en perspectief. Visies op de geschiedwetenschap in Nederland, Groningen: Wolters-Noordhoff, 1987, S. 121).

[Dtsch.: Sozialgeschichte ist primĂ€r beschĂ€ftigt mit wechselnden Interaktionen zwischen Gruppen von Menschen. Diese Gruppen haben ungleichen Zugang zu den spĂ€rlichen GĂŒtern und sind dadurch gekennzeichnet durch Differenzen in Einkommen und Vermögen. In Zusammenhang hiermit haben Sie auch ungleiche Zugang zum Kenntnis, Macht und Einfluss.]

Das persönliche Element ist immer wichtig in einem Profil. An den starken und schwachen Teilen der Sammlung kann man die Netzwerke der GrĂŒnder wieder erkennen. Posthumus und seine rechte Hand Frau Adama van Scheltema waren bekannt in der Sozialdemokratie, Arthur Lehning im Anarchismus. Diese Teile der Sammlung sind sehr stark. Weniger stark sind zum Beispiel die kommunistischen Archive.


Erste große Anpassung an das Profil geschah am Ende der sechziger Jahre

Diese Anpassung war die Folge der tiefgreifenden gesellschaftlichen VerĂ€nderungen im Westen. Die klassische Arbeiterbewegung wurde schrittweise weniger interessant. Sie war immer mehr selbst ein Teil des Systems geworden. Aber zugleich entstand eine breite und starke Bewegung gerichtet auf Teilaspekte in der Gesellschaft. In der Welt der Sozialgeschichte  hat der Terminus ‚Neue Soziale Bewegungen‘ dafĂŒr Eingang gefunden. Das Institut nahm seine alte Aufgabe wieder auf, Archive und Bibliotheken verfolgter Personen und Organisationen zu retten. Das implizierte einen Schritt in Gebiete außerhalb Europas. Insbesondere Material aus Lateinamerika und der TĂŒrkei kam in dieser Zeit nach Amsterdam.

FĂŒr die Studentenbewegung ist Wolfgang Abendroth wichtig. Und relevant sind die außerparlamentarischen Proteste im 60-er und 70-er Jahre. Das ID Archiv im IISG  und die Kommune-I-Sammlungen decken diesen Aspekt ab. Auf dieser Periode beziehen sich auch die Archive Wolfgang Harichs, und Reinhard Opitz. Eine zusammenhĂ€ngende Gruppe von Archiven bezieht sich auf die Rote Armee Fraktion. Die meisten in diesem Bereich stammen von SolidaritĂ€tsgruppen und Rechtsbeistandsorganisationen der gefangenen RAF-Mitglieder.

Zweite Anpassung


Wir sind jetzt in der Mitte einer zweiten großen Anpassung des Profils: das der Globalisierung. Die GrĂŒnde dieser Anpassung sind vielfach. So ist es nicht mehr notwendig, Archive zu erwerben, die aus LĂ€ndern mit einer verwurzelten Demokratie, professionellen Institutionen und relativem Reichtum stammen. Das war bei der vorigen Anpassung schon ein wenig zu konstatieren, aber jetzt ist es ein prominenter Ausgangspunkt. Das heißt zugleich dass wir aktiver geworden sind in den LĂ€nder der Dritten Welt. Bei dieser Änderung ist das Argument der Rettung des sozialgeschichtlichen Erbes dominant. Eine zweite Anpassung ist der Wunsch, Wissenschaft und Sammeln enger auf einander zu beziehen. Die Forschungsabteilung im IISG hat als ĂŒbergreifendes Thema ‚Global Labour History‘ gewĂ€hlt. Es ist die Absicht, dass das Sammeln sich schrittweise mehr auf dieses Thema richtet.


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