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Guy Helminger: Die Bahnfahrt

Erzählung

"Ich bin berühmt", sagte er in die Gruppe von Schülerinnen hinein, die an der Tür in der Straßenbahn stand. Und keines von den Mädchen wußte, wen der Junge meinte, welches von ihnen er angesprochen hatte. An den Fenstern schlierten die Häuserreihen vorbei, schwüles, lichtnasses Gemäuer klatschte ans Glas. Der Junge aber war ihnen gleich beim Einsteigen aufgefallen. Sie hatten gelacht, herumgealbert, den Jungen mit keinem Wort erwähnt, aber allen war klar, daß er neben ihnen stand. Sie redeten laut, sie redeten über Lehrer Schippan, der beim Sprechen wieder gesprudelt und gespuckt hatte, so daß Andy in der ersten Reihe den Regenschirm aufgespannt hatte, aber eigentlich redeten sie über den Jungen, schielten in seine Richtung.

Eine kurzatmige Frauenstimme schnitt aus den Lautsprechern in ihr Gespräch, verteilte sich in gleichmäßigen Abständen in der Bahn. Fahrgäste zogen sich von ihren Sitzplätzen, schaukelten auf die Tür zu. Für einen Moment, eine Woge von Gesichtern tänzelte hinter ihnen, verloren die Schülerinnen den Jungen aus dem Blick. Gefleckte Hemden; ein feuchter Geruch über den Schultern schwappte auf sie zu. Irgendwo dahinter war der Junge. Dann sprühten Bremsgeräusche unter ihnen, und eines der Mädchen verzog seinen Mund, bis die Bahn endlich hielt. Kleider wischten an ihnen vorbei, und das Mädchen, das seinen Mund verzogen hatte, klemmte die Daumen zwischen seinen Fingern ein. Die anderen schauten nach draußen auf die verkerbten Bänke der Haltestelle und nickten. Sie waren sich nicht sicher, was sie erwarteten, aber etwas würde passieren. Dann schloß sich die Tür wieder, und wie aus einem Leib lachten die Mädchen los. Der Junge war nicht ausgestiegen, hielt sich an der Metallstange neben der gegenüber liegenden Tür fest und sah zu ihnen herüber.

"Meint ihr, es gibt gleich Regen?" sagte eine der Schülerinnen zu den anderen und lehnte ihre Wange ans Türglas, um nach oben sehen zu können.
"Ich bin berühmt", wiederholte der Junge mit gebrochener, aber deutlicher Stimme. Die umstehenden Fahrgäste, die seinen Satz gehört hatten, schauten weg. Auch die Mädchen schwiegen erneut, blickten den Jungen von der Seite an, sahen zu Boden. Als die Bahn ruckartig anfuhr, spürten sie deutlich, daß sich etwas verändert hatte. Aber keine von ihnen hätte sagen können, was es war. Vereinzelt drifteten hellgraue Wolken über die Dächer; das Kitzeln im Hals, in den Kiefermuskeln, das sie zum Lachen gebracht hatte, war nicht mehr zu spüren. Durch die schmalen aufgeklappten Fensterluken streifte der Wind über ihre Gesichter. Die Luft tat gut und doch kam es ihnen vor, als seien diese Windstöße etwas zu kalt für diese Jahreszeit. Eine der Schülerinnen öffnete ihre Mappe und kramte darin herum, ohne etwas Bestimmtes zu suchen. Dann schloß sie sie wieder und sah an den Freundinnen vorbei auf einen Punkt weit hinten im Wagen. Auch die anderen Mädchen richteten ihre Augen auf Gegenstände zwischen den Sitzreihen, glitten über Taschen, zogen sich an Plastiktüten hoch. Das Kitzeln kam nicht wieder. Die Lippen einiger Fahrgäste öffneten sich, aber die Schülerinnen hörten nichts. Nur das Klingeln der Bahn drang einmal zu ihnen durch, gefolgt von einem erneuten Rucken.

"Da schläft wieder jemand auf den Schienen", sagte eines der Mädchen hastig, aber keine der Freundinnen lachte oder antwortete ihr. Draußen schwammen noch immer dieselben Wolken.

"Da!" sagte die, die ihren Mund verzogen hatte und schüttelte den Kopf. Aber niemand wußte, ob sie die Regenwolken meinte oder den Jungen, der sich nun nicht mehr festhielt, sondern breitbeinig in der Bahn direkt vor ihnen stand. Er sah noch immer in ihre Mitte. Wen schaut er an, dachten sie und spürten, daß der Luftzug, der schwächer wurde, ihnen eine Gänsehaut um die nackten Arme legte. Zwei von ihnen drehten dem Jungen demonstrativ den Rücken zu, stellten sich an die Tür, als wollten sie an der nächsten Haltestelle aussteigen und blickten sich an. Die die rechts stand verdrehte dabei die Augen. Die andere grinste und sah, wie der Himmel sich nun mit unglaublicher Geschwindigkeit völlig zuzog, wie eine Masse aus Anthrazit über die Stadt rollte, über die Bäume strudelte und das Licht aus den Straßen nahm.

"Über mich wirst du morgen etwas in der Zeitung lesen", sagte der Junge, und die, die ihre Augen verdreht hatte, hielt die Luft an. Etwas riet ihr, sich nicht umzudrehen, nicht ins Düstere des Wagens zu blicken, auf keinen Fall auf diese billige Anmache einzugehen. Was hatte sie im ersten Moment an diesem Jungen gefunden? Ihr Blick folgte dem wirbelnden Spiel über den Häusern. Abgedunkelt griffen Luftmassen ineinander, bauschten sich auf zu einem weiten Körper, rissen wieder auf und fransten mit lichtvertrockneten Schrammen zwischen den Hausgiebeln.

"Laß uns bald ankommen", sagte das Mädchen leise. Die die links von ihr stand, warf ihr einen ängstlichen Blick zu. Dann starrten beide wieder nach draußen auf die vorbeiklappernden Bürgersteige.

Liefen die Menschen in ihre Häuser?

An den schwarzen Feldern am Himmel vergrößerten sich unerwartet die Risse. Sonne fächerte plötzlich wieder über die Sitze, verdunstete, dann verkeilte sich erneut ein Strahl an der Tür.

"Kommt doch kein Regen", sagte das Mädchen. Da trat eine ihrer Freundinnen auf den Jungen zu. Vielmehr drehte sie nur ihren Oberkörper, ohne einen Schritt zu machen, blickte ihm ins lächelnde Gesicht und sagte es ihm.

"Hör auf damit", sagte sie. "Du hast sowieso keine Chance bei uns; wir haben alle schon mal was Besseres gesehen."

Einen Moment lang war es, als ob jedes Geräusch in der Bahn abgestorben, das Ohr taub geworden wäre, unempfindlich für das leiseste Kratzen der Räder auf den Schienen. Flecken befielen die Gesichter. Die dunklen Flächen über den Gärten lösten sich in kleine Parzellen auf, stießen sich ab und glitten auseinander. Erstaunt über ihre eigene Stimme starrte das Mädchen, nachdem es verstummt war und ihm nichts mehr einfallen wollte, was es seinen Worten noch hätte hinzufügen können, in das Gesicht des Jungen. Lichtgeflimmer tummelte sich in dessen Augen. Über seine Stirn hing eine Strähne; sein Gesicht aber erkannte sie kaum, jedenfalls genauso wenig wie sie die ungläubigen Blicke ihrer Freundinnen wahrnahm, die zwischen dem Jungen und ihr hin und her sprangen. Dann tauchten wieder Fahrtgeräusche auf; sekundenlanges Abhören der Räder, bis eine von ihnen erneut das unnachgiebige Kitzeln in ihren Wangen spürte und zu kichern begann. Ein leichtes Vibrieren griff um sich, faßte in die blassen Gesichter. Einige Hände bedeckten Nase und Mund. Etwas pumpte hinter den Wangen. Dann klatschte doch noch der erste Regentropfen gegen das Türglas, und das Mädchen, das dem Jungen die Meinung gesagt hatte, blickte in die halb verdeckten Gesichter ihrer Freundinnen und grinste. Keine von ihnen gab etwas darauf, daß die anderen Fahrgäste in ihre Richtung schielten. Der Regen schlug einige Male in dicken Tropfen gegen die Fenster, dann waren am Glas wieder die hellen Reflexe des Nachmittags zu sehen. Und auch der Junge schien in diese Heiterkeit einstimmen zu wollen, grinste zurück, nickte freundlich mit dem Kopf, während seine Augen glasig die Lichter von draußen auffingen. Dann griff er in seine Jeansjacke, zog eine Pistole aus der Tasche und schoß dem Mädchen ins Gesicht.


Guy Helminger, geboren 1963 in Esch-sur-Alzette/Luxemburg, wohnt seit 1985 in Köln. Prosa, Lyrik, Hörspiele; zahlreiche Preise und Stipendien, u.a.: Förderpreis für Jugend-Theater des Landes Baden-Württemberg 2002; Prix Servais 2002; 3sat-Preis (28. Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt 2004; Veröffentlichungen zuletzt: Ver- wanderung. (Gedichte) Editions Phi, Esch/Alzette 2002; Rost. (Kurzgeschichten) Editions Phi, Echternach 2001. Im Herbst 2005 erscheint ein Erzählungsband im Suhrkamp Verlag.