Verschiedenes > Beitrag
Weitere Beiträge
  • Stan Lafleur: 5 Rheingedichte

    Lyrik
    [25.07.2017]
  • Walter Vitt: Ein freier Text

    Prosa
    [19.07.2017]
  • Lokal Hero Gustav Sack

    Die Gemeinde Schermbeck erinnert sich in bemerkenswerter Offenheit ihres „verlorenen Sohnes“, dessen 125. Geburtstag in diesem Jahr ansteht.
    [15.06.2017]
  • Louisa Schaefer: Embankment – Embark – Uferböschung – Ausufern

    Prosa
    [27.05.2017]
  • Pilar Baumeister: Zwei Gedichte

    Lyrik aus NRW
    [24.05.2017]
  • Walter Vitt: Konjunktur in Deutschland

    Eine Zitat-Collage
    [17.05.2017]
  • Henning Heske: Landmarken I-VII

    Gedichte
    [15.05.2017]
Backlist
Alle bisherigen Beiträge finden Sie in unserer Backlist.

Zu den Netz-Datenbanken von RLA und WLA

Thomas KrĂĽger: 5 Gedichte

Charles Darwin in einem Brief


Die Schönheit der Nachkriegsfrauen stellte sich am Ende der
Kulturgeschichte als Krankheit heraus, die in Orlando,
Disneyland, aus einer Gruppe von blindaktiven Nagern,
epitheleologischen Trickstern, zur Fortsetzung des
die Zukunft generierenden Krieges gegen den Gott der
Schwanzwedelkunst Qu in die stillen Gesichter der Ticket-
verkäuferinnen lokaler Kinoketten gesprungen
und dann in die Länder der Todessterne gezogen war.
Zu diesem Zeitpunkt galt der Kampf von Qu dem Gott des Ist, den
belächelten Toten in ihren Massengrabparties am
Rande der Pools, der MĂĽdigkeit in ihrer monotonen,
die Zukunft zunichte machenden Reaktion auf Fliegen.
Die Gesichter der Ticketverkäuferinnen verschwanden,
die Tiere vermehrten sich und lernten schwimmen und gingen
Schwänzchen um Schwänzchen geschlungen auf Reisen. Sie ließen ein
Startmelanom, ein Zucken unter den Decken zurĂĽck und
ein kurzes Fiepen beim Biss ins finale Jetzt-mein-Freund. Die
fliegenlockenden Momente der Gesichter bekamen
ein StĂĽck Land in den Weiten der Sierra Nevada, folgten
dem glĂĽcklosen Qu. Das alles ging unter bei den Atom-
versuchen von Schönheit, die stattgefunden haben müssen,
in Parallelzeit zu den Ticketverkäufen – vermutlich.




Gulliver
fĂĽr Joachim Sartorius


Das Klagegeschrei mischte sich ins Freudengeheul ĂĽber
die fette Beute, und findige SprĂĽcheklopfer setzten
den Slogan: „Mikrosoft killed Makrosoft“ in die Welt. Da war
Gulliver bereits zerteilt, denn es war ja das „Zeitalter
der kleinen Einheiten“ – wie die Sprücheklopfer es nannten.
Fackeln erhellten die Bucht, wo sich das Wort „dekonstruktiv“
flink wie ein Delphin bewegen konnte zwischen Licht und Rauch.
Stimmen, Bewegungen, Lichter bildeten die inneren
Ströme eines Körpers, den es nicht mehr gab: das Lachen und
Schmatzen, Kreischen und Knirschen. Die Dunkelheit hatte sich das
Fackellicht einverleibt wie ein irrsinnig flackerndes Herz.
Das Fleisch wurde gekocht und in weiĂźe TĂĽcher gehĂĽllt, ver-
packt und mit seltsamen Absendern in alle Welt verschickt.
Die Tat versteckte sich in ihren Folgen, so wie ein Fisch,
der ein Vogel wird. Er hatte den Hintergrund einer un-
bekannten Herkunft, doch man kannte sich aus in seinem Leib
wie eine Krankheit. Zu Boden gebracht, konnte die Flut ihn
bedecken und weiterreichen an den Verwaltungswahn im
Lauf der Gezeiten. Was jedoch das Klagegeschrei betrifft:
stammte es nicht zum Teil von ihm selbst, diesem Riesen, der den
Verschluckten, den Jonas, nicht zum Verstummen bringt, solange
der Gefangene als eine unteilbare Einheit gilt?



Heute morgen

Heute morgen wurde das Foto der seltsamen Bäume
von überall auf der Welt mit Hilfe präziser, kluger,
das Wesen erfassender Technik zusammengezogen –
wir sagen entwickelt: Gestalten am Rand eines Parks, die
Geste des Ăśberfalls, die brennenden Zweige im Akt des
Packens – Erschreckens. Bäume von überall auf der Welt, wie
BĂĽsche und Regenwaldriesen, verwirrende Eichen und
sichelnde Palmen – in einer sammelnden Fotografie:
Es ist alles Erkundung vom Innern der Erde, das die
Ă„ste als seltsam verfestigtes, wachendes Feuer ins
Helle und Dunkel hält: die Wäldergeflechte in ihrer
feinsten ĂĽber-Land-Verteilung von Warten und Beachten.
Es packt sich die Welt im Bruchteil von Sekunden und stĂĽrzt mit-
samt seiner Beute ins eigene Feuer zu Asche. Es
schleudert die Vögel wie bunte, brennende Kugeln mit
fürchterlichem Geschrei auf die Gegner und schließt die Fäuste.
Es rutscht zurĂĽck in die Erde, verschwindet, blendet sich aus.
Es flieĂźt ab und zieht mit seiner seltsamen Magma auch das
vorgestoßene, seltsame Holz zurück aus den Häusern.





Mr. Shakespeare


Huge trunks! -and each particular trunk a growth
Of intertwisted fibres serpentine
Up-coiling, and inveteratley convolved, -
Nor uninformed with Fantasy, and looks
That threaten the profane…
William Wordsworth – Yew Trees


„Ich kam, sah und schnitzte meinen Namen in den Stamm“, sagte
Mr. Shakespeare am Abend des 16. Jahrhunderts und
sah im Sonnenuntergang den langen Bogenschatten, saĂź
am Stamm der Eibe auf dem FriedhofshĂĽgel nahe Crowhurst.
Dann hob er den Arillus-Becher, rot wie Evas Apfel:
Er prostete der Stille zu, die aus dem Baum mit Ochs- und
Eselsstimmen drang, mit Tellerklappern, StĂĽhlerĂĽcken. 12
Geschworene und Götter, Arthurs Ritter lärmend an der
Tafel, die da stand, im Bauch des Baums. Er prostete erneut.

Er prostete den Gräbern zu und grüßte Ed Lee Masters:
„Auf die Zukunft Spooniadäre!“, rief er lachend: „Lieber Wirt,
die nächste Runde geht auf Mr. Shakespeare!“ Und sein Becher
flog in hohem Bogen, schlug exakt taxiert ins Grab, das dort
am Schattensaum noch offen lag, und wieder rief er „Prost!“ und
„Bethlehem forever!“ Dann ein Erdstoß. Rumpeln. Wind kam auf.
Dunkelheit und Kälte. Blitz und Donner. Plötzlich der Moment,
in dem das Grabloch jung wie Julias Mund zum Himmel staunte:

„Donnerwetter“, sagte Mr. Shakespeare, vollgefüllt mit Stoff,
aus dem die Bäume sind. Er legte seine Stirn in Falten,
trat zum Eibenstamm, worauf sein Name stand: sein Testament,
dann trat er in den Baum, verschwand – vermutlich in der Hölle.
Der Baum trieb Wolkenblätter. Stürme knirschten. Schiffe sanken.
Sie pflĂĽgten mit dem Bug den Boden, Holz verzog sich. Mr.
Shakespeares Namen zeigte seine Krallen. Er drehte sich, ver-
bog, verkrümmte sich, ließ Nägel wachsen, Schlangen kriechen, plus
die Schlange, die sich selber in den Schwanz beiĂźt: dieses Herz im
eisenharten Holz, in dem ein Pfeil wächst. Wo „I love you“ steht.





The Apparition

Ein älterer Herr namens Moses malte sich ein Schild nach-
dem ihm Passanten an einer StraĂźenkreuzung ein paar der
gängigen Schreibweisen seines Namens verraten hatten.
Dann hob er den Hirtenstab, stoppte den Verkehr und Schafe
brachen in Wellen aus den Hydranten am StraĂźenrand und
warfen das Bild eines flirrenden Zebrastreifen auf den
kleinen, staunenden Knoten im Netz der Weltbewegungen.
Dann löste er sich auf, und Wasser in weißen Fontänen,
ein bräunliches Lächeln im weißen Bart, wie er flirrend im
hitzigen Stau der Sommerluft hing, glänzte im Radau von
Hupkonzert und Mittagszeit an dieser irren Ecke, wo
die MĂĽnder sich langsam wieder schlossen und die Zungen im
unruhigen Bett von Kaubewegungen zur Ruhe kamen.
Dann zogen herbeigesprenkelte Kinder ein braunes, ein
blutbesudeltes StoffstĂĽck von der StraĂźe, wo das Kreischen,
der wirbelnde Lärm geheimnisvoll war wie der Grund eines
Brunnens, aus dessen Tiefe die glitzernden Fontänen, die
still in der Luft standen, plötzlich nur blitzten und losbrüllten.
Dann flogen Dinge durch die Gegend, übersät mit Namen.




_________________________________________________________________
Thomas Krüger wurde 1962 in Löhne/Westfalen geboren und lebt in Bergisch Gladbach. Er studierte Anglistik, Anglo-Amerikanische Geschichte und Geographie und arbeitet als Programmleiter in einem Hörbuchverlag in Köln. Er schreibt Lyrik und Prosa und veröffentlichte in verschiedenen Literaturzeitschriften, u.a. AKZENTE, SINN UND FORM, NDL und DIE HOREN. Im Bielefelder Pendragon Verlag erschien 2003 der Lyrikband „Michelangelo rising", 2004 das satirische Langgedicht „Alarm auf Planet M". Bei OMNIBUS/cbj kam 2004 das Kinderbuch „Rufus und das Geheimnis der weißen Elefanten" heraus.