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Walter Vitt: Ein freier Text

Prosa

VII. Aus dem Nachlass des Vaters

17.11.2004. Im Traum wieder einmal meinem Vater begegnet. Der Traum entführt mich in die Kindheit, Vater ist älter als ich, er spricht mit mir. Meistens, wenn ich von ihm träume, ist er jünger als ich, er starb mit 55, seit 13 Jahren bin ich älter als er. In diesen Träumen riskiert er meistens nicht, mit mir zu sprechen. Er hat es mir so beigebracht: Wenn Ältere reden, haben die Jüngeren zu schweigen.

Ich habe nie von ihm erfahren, wie er die Nazi-Zeit durchlebt und durchlitten hat. Wir Kinder sahen ihn damals selten. Dass der Großvater in Alt-Schermbeck kein Nazi war, wussten wir aus dessen Erzählungen. Der Vater sprach über solche Dinge nicht, nicht während des Krieges und nicht nach dem Krieg. Aber ich war mir sicher, dass er nicht in der Partei gewesen ist. Aber konnte man sicher sein? Nach dem Krieg war niemand in der Partei gewesen. Einer meiner Chefs im Rundfunk war mir ganz unverdächtig, gehörte er doch als ganz frühes Mitglied zur Redaktion des „Spiegel“. Er brachte uns mit glühenden Wangen bei, was Pluralismus ist und Ausgewogenheit. Der konnte kein Nazi gewesen sein, dachten wir in der Redaktion. Nach seiner Pensionierung offenbarte er sich in der Hauszeitschrift als Nazi-Parteigänger.

Als ich in den 1980er Jahren Teile des Nachlasses meines Vaters sichtete, fand ich Dokumente, die klarstellten, dass Vater sich sogar geweigert hatte, der SA beizutreten. Zugleich belasten diese Papiere von 1933 die katholische Studentenverbindung CV Nassovia in Darmstadt wegen ihrer eindeutigen Ergebenheitsadressen an Hitler. FĂĽr einen Antifaschisten war in dieser katholischen Studentenverbindung damals kein Platz!

Vater gehörte zur Nassovia in Darmstadt, war 1933 aber nicht mehr immatrikuliert. Am 1.11.1933 – Allerheiligen!! – forderte die Nassovia die immatrikulierten Bundesbrüder auf, dem Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund beizutreten. An alle nichtphilistrierten Bundesbrüder erging die Anordnung, unverzüglich SA-Männer zu werden, anderenfalls werde man sie aus dem CV ausschließen. Als Vater dies – übrigens als einziger Bundesbruder der gesamten Nassovia – ablehnte, wurde ihm vom „Führer“ [sic] der katholischen Nassovia mitgeteilt, die Verbindung sei „nicht gewillt, Bundesbrüder bei sich zu halten, die sich weigern, aktiv für das neue Deutschland und den Nationalsozialismus tätig zu sein“. – Vater wurde erst nach dem Krieg wieder in den CV aufgenommen.

VIII. Die Zwillinge, die nicht größer wurden

23.11.2004. Weiter im „freien Text“. - „Zwillingsgeschwister“ steht auf meinem Spickzettel. Das erste Zwillingspaar wurde 1941 in Erfurt geboren, kurz bevor wir nach dem Bombenangriff nach Braunschweig umzogen, die zweiten Zwillinge 1945 in der Evakuierung im Harz, dieses Mal als Hausgeburt, sozusagen als Barackengeburt. Mutter, die nicht besonders groß war, sah schon lange so gerundet aus, dass die Dorfkinder mich hänselten: „Deine Mutter ist ja breiter als höher“; oder: „Deine Mutter jungt bald“. Ich stolz: „Es werden wieder Zwillinge“. „Dann kriegt sie noch ein Mutterkreuz“, sagte der Fähnleinführer der Hitlerjugend des Dorfes. Bei ihm hatte ich einen Stein im Brett. Ich hatte ihm helfen können, als man ihn in diesen Rang befördert hatte, aber die Litze, die seine Bedeutung erkennbar macht, nicht mehr zu beschaffen war. Ich sprach meinen Onkel H. aus Köln an, der nach dem Einsatz im Afrika-Feldzug auf einer Schule in Hannover unterrichtete, auf der Führungskräfte der Hitlerjugend ausgebildet wurden. Ich erzählte ihm, wie oft ich im Dorf schon verprügelt worden bin, und fragte, ob er eine Litze für einen Fähnleinführer besorgen könnte. Er konnte – und brachte noch andere „Orden- und Ehrenzeichen“ für Hitlerjungen und Angehörige des „Deutschen Jungvolks“ mit. Ich schaffte mir auf diese Weise viel Prügel vom Hals.

Zurück zu den Zwillingen Nr. 2. Ich erinnere mich noch, dass der Arzt aus Echte am Abend mit der Pferdekutsche kam, einem Einspänner. Wir Kinder wurden ins Bett geschickt, doch ich versuchte, wach zu bleiben, schaute immer mal wieder, ob die Kutsche noch vor der Baracke stand. Am anderen Morgen war die Kutsche fort, und wir hatten zwei weitere Geschwister. Die Baracke wurde allmählich recht eng. Als wir nach der Evakuierungszeit im Winter 1946/47 nach Braunschweig zurückkehrten und die Nachbarn die neuen Zwillinge das erste Mal sahen, fragten sie: „Sind die denn gar nicht größer geworden?“ Sie hatten sie für die Zwillinge von 1941 gehalten. In Kriegszeiten mit schlechter Ernährung gar keine so unberechtigte Frage.

IX. Die Stimme des Oberkommandos der Wehrmacht

Heute morgen (26.11.2004) sind besonders viele Flugzeuge am Kölner Himmel. Wir sitzen beim Frühstück und können sehr schön beobachten, wie sie über dem Kölner Süden ihre Kondensstreifen in den Himmel schreiben, deren präzise Linienführung bald vom Wind zerfleddert und verzerrt wird, während sich schon wieder neue Linien mit ihrem kräftigen Weiß darüber und darunter legen.
Im Harz konnten wir Tag für Tag die alliierten Bomberstaffeln beobachten, die in großer Höhe über uns hinwegflogen, unbehelligt von deutscher Abwehr, im Anflug auf den Gau Süd-Hannover/Braunschweig, wie das Oberkommando der Wehrmacht über Radio bekannt gab. Die Angst vor diesen Flugzeugen verschwand bald. Wir blieben im Freien und verrenkten unsere Hälse, um sie möglichst lange sehen zu können. Auf Harz-Dörfer Bomben zu werfen, war kein effektives Kriegsziel. Einmal verlor ein Flugzeug – wohl aus Versehen – eine Bombe, die auf einer Weide die einzige Kuh traf, die dieser Bauer noch hatte. Der Zufall arbeitete zielgenau. „Das Oberkommando der Wehrmacht gibt bekannt" – mit diesem Einstiegssatz begannen alle Durchsagen, die feindliche Flugzeuge ankündigten. Eine von diesen Stimmen habe ich in ihrer martialischen Ausdrucksweise immer noch im Ohr. Und ich bin ihrem Urheber später im Beruf zusammengetroffen. Als junger Redakteur in Köln begegnete ich zu Beginn der 1960er Jahre einem Nachrichtensprecher, der genauso sprach wie die Stimme, welche die Flugzeuge der Alliierten ankündigte. Eines Tages nahm ich allen Mut zusammen: „Sie haben dieselbe Stimme, wie ich sie als Kind bei Durchsagen der Wehrmacht gehört habe“, sagte ich zu ihm. „Ich war diese Stimme beim Oberkommando der Wehrmacht“, antwortete er, sichtlich stolz, dass das immer noch erkennbar war.


X. Schluss

Drei Jahre lebten wir in der Baracke im Harz – vom Winter 1943/44 bis zum Winter 1946/47. Die Volksschule im Dorf war zweizügig. Die Schülerinnen und Schüler der 1. bis 4. Klasse wurden zusammen unterrichtet und diejenigen der 4. bis 8. ebenfalls. Auf meinen Zeugnissen, die ich noch sämtlich aufbewahrt habe, geht alles durcheinander – die Lehrer kamen mit dieser unterschiedlichen Schüleransammlung in einer Klasse offenbar genauso wenig zurecht wie wir Schüler, die wir selten so richtig wussten, welche Hausaufgaben für uns gedacht waren. Das Verwirrspiel in meinen Zeugnissen sieht so aus: Eingeschult im Herbst 1942, werde ich im Juli 1943 in die Klasse II versetzt, im Juli 1944 werde ich wieder in die Klasse II versetzt, im April 1946 in die Klasse IV, doch mein Herbstzeugnis von 1946 behauptet, dass ich in Klasse III angesiedelt sei. Die alten Zeugnishefte mit dem Hakenkreuz-Adler wurden bis dahin weiterbenutzt, es gab in der frühen Nachkriegszeit kein Geld, um neue, demokratische Zeugnishefte zu drucken. Erst für das im Februar 1947 in Braunschweig ausgeteilte Versetzungszeugnis in die Klasse V wurde ein neugedrucktes Formular benutzt – auf billigstem Papier, das aus Altpapier hergestellt worden war.

Wir lebten wieder in unserer Braunschweiger Mietwohnung, deren Bombenschäden notdürftig repariert worden waren. Ich bestand die Aufnahmeprüfung aufs Gymnasium und begann dort den Unterricht am 6. Mai 1947 um 8.15 Uhr in Klasse G 5. Die Aufnahmebescheinigung habe ich auch verwahrt. Auf dem Schulhof lagen noch Berge von Trümmern, wir Schüler mussten alle mit anfassen, sie wegzuräumen.

Fußball spielten wir auf der Straße. Kam eines von den wenigen Autos, die damals fuhren, traten wir eben mal zur Seite. Als Sportplatz hatten wir uns in der Kasernenstraße auch den Schulhof der zerbombten ehemaligen Raabeschule ausgewählt. Der Bau war so zerstört, dass er nicht mehr benutzt werden konnte. Wir nannten uns SV Raabe, ohne zu wissen, woher dieser Name kam, denn den in Braunschweig gestorbenen Dichter Wilhelm Raabe und dessen Romane und Novellen lernten wir erst später kennen.


Köln, am Vorabend des 1. Advent 2004 abgeschlossen.


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